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FORUM 2–2020

Liebe und Sexualität in der Onlineberatung

JugendNotmail bietet psychosoziale Beratung für Kinder und Jugendliche

Die aktuelle Corona-Pandemie macht viele Face-to-Face-Beratungen unmöglich oder stellt sie vor neue Herausforderungen. Vertrauliche und kostenlose Onlineberatungen wie JugendNotmail spielen dann auch im Rahmen der Sexualaufklärung eine wichtige Rolle.
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Die aktuelle Corona-Pandemie macht viele Face-to-Face-Beratungen unmöglich oder stellt sie vor neue Herausforderungen. Vertrauliche und kostenlose Onlineberatungen wie JugendNotmail spielen dann auch im Rahmen der Sexualaufklärung eine wichtige Rolle.

Die Generation Z, geboren zwischen 1995 und 2010, gehört in einem besonders hohen Maße zu den sogenannten Digital Natives: 24 Stunden online zu sein und virtuelle und persönliche Kontakte als gleichwertig anzusehen, ist für sie selbstverständlich. Laut der JIM-Studie 2019 (https://www.mpfs.de/studien/jim-studie/2019) besitzen inzwischen 98 % aller 12- bis 19-Jährigen ein eigenes Smartphone. Hinzu kommen Social-Media-Angebote wie Tinder, Instagram und Co., die das Liebesleben und die Partnerwahl der heutigen Generation einfacher machen.

Auch wenn es scheint, als ob es noch nie so leicht war wie heute, potenzielle Beziehungspartner*innen kennenzulernen, »casual sex« zu praktizieren und sich Beziehungsmodelle nach eigenen Vorstellungen zu basteln, zeigt die Generation Z auch eine auffallende Präsentation nach außen mit ständiger Verfügbarkeit (Stichwort WhatsApp) und einem enormen Druck zur Inszenierung des eigenen Körpers in den sozialen Medien.

 

Die Vorgeschichte

Auch wenn Kinder und Jugendliche heute so aufgeklärt, frei und offen in Bezug auf Sexualität sind wie nie zuvor, gibt es viele offene Fragen und Probleme, für die sie neutrale Gesprächspartner*innen suchen, denen sie vertrauen können. Onlineberatungen wie JugendNotmail haben daher eine wichtige Schlüsselfunktion, denn sie holen Kinder und Jugendliche dort ab, wo sie sich die meiste Zeit aufhalten: im Internet.

Bereits 2001 entwarf Gründerin Claudine Krause das Konzept für JugendNotmail (www.jugendnotmail.de), eine vertrauliche und kostenlose Onlineberatung für Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren durch Fachkräfte. Als Grundschullehrerin hatte sie jahrelange Erfahrung mit verhaltensauffälligen Schüler*innen gesammelt. Ausschlaggebender Impuls für die Gründung von JugendNotmail war ein besonderer Vorfall: Ein Erstklässler hielt sich während des Unterrichts ständig unter dem Tisch auf und weigerte sich, am Unterricht teilzunehmen. Nach intensiver Zuwendung stelle sich heraus, dass der Schüler von seinem Vater gezwungen wurde, pornografische Filme mit ihm zusammen anzusehen. Diese Situation veranlasste sie, für Kinder und Jugendliche in Not eine unkomplizierte und präventive Anlaufstelle zu schaffen.

 

Beratungsstruktur

Bei JugendNotmail können Kinder und Jugendliche ihre Sorgen kostenlos und vertraulich einem professionellen Beratungsteam anvertrauen. Rund 150 Fachkräfte aus den Bereichen Psychologie und Sozialpädagogik beraten zu Themen wie Liebe, Sexualität, Depression, Selbstverletzung, Gewalt, Mobbing, Missbrauch und familiäre Probleme. Der Zugang ist denkbar einfach: Wenn der/die Jugendliche das Beratungsangebot nutzen möchte, meldet er/sie sich mit einem selbst gewählten Nickname und Passwort an. Anschließend kann man direkt eine Einzelberatung auf der Plattform nutzen und das Problem in einer sogenannten Notmail schildern. Alle eingehenden Notmails landen in einem Pool, auf den die über ganz Deutschland verteilten ehrenamtlichen Onlineberater*innen zugreifen. Sie beantworten die eingehenden Notmails möglichst in der Reihenfolge des Eingangs innerhalb von 24 Stunden. Im Dialog mit den Ratsuchenden werden individuelle Lösungen erarbeitet. Ratsuchende bekommen dabei eine feste Beratungsperson zugeteilt. Die Kommunikation erfolgt ausschließlich über einen plattforminternen Mailaustausch und ist somit komplett vertraulich.

 

Hilfe zur Selbsthilfe

Ziel ist es, Ratsuchende in ihrer jeweiligen Lebenssituation zu stärken und ihnen Kompetenzen zu vermitteln, die es ihnen ermöglichen, sich selbst Unterstützung zu organisieren und von professioneller Hilfe unabhängig zu werden. Die Beratung soll und kann jedoch keine Therapie ersetzen.

Wenn innerhalb der Beratung deutlich wird, dass eine Therapie, Behandlung oder Betreuung vor Ort unausweichlich ist, versuchen die Berater*innen an kompetente Beratungsstellen zur persönlichen Weiterbetreuung zu vermitteln. Außerdem bieten ein wöchentlich stattfindender moderierter Themenchat sowie die Diskussionsplattform »Forum« die Möglichkeit, sich mit anderen Ratsuchenden auszutauschen.

 

Präventives Potenzial

JugendNotmail richtet sich in erster Linie an junge Menschen, die in psychische Not geraten sind und oft keine Ansprechperson für ihre Probleme und Ängste haben. Aus Scham und Angst vor Ablehnung behalten sie ihre Sorgen für sich, was mit der Zeit immer belastender werden und zu Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Erkrankungen führen kann. Dank der niedrigen Hemmschwelle, sich unerkannt mitteilen zu können, fällt es jungen Menschen leichter, über schwierige, belastende, tabuisierte oder intime Dinge zu berichten. Angst- und schambesetzte Themen können direkter angesprochen werden, ein Vorteil, den das vertrauliche Online-Beratungsangebot gegenüber Face-to-Face-Beratung bietet. So können Lösungswege frühzeitig erarbeitet werden, bevor sich eine Beeinträchtigung manifestieren kann.

Ein weiterer, nicht zu unterschätzender präventiver Effekt ist die Barrierefreiheit des Onlineangebots. Das Internet bietet mit seinen interaktiven Möglichkeiten eine ideale Plattform für ein niedrigschwelliges Beratungsinstrument. Es bringt die Beratenden und die Ratsuchenden schnell und unkompliziert in Kontakt. Junge Menschen, die aufgrund ländlicher Abgeschiedenheit, körperlicher oder seelischer Beeinträchtigung bei Inanspruchnahme von Beratungsleistungen eingeschränkt sind, können sich so einfach online Hilfe holen.

 

Bedarf an vertraulicher Onlineberatung steigt stetig

JugendNotmail war eine der ersten Onlineberatungen im deutschsprachigen Raum. Seit Bestehen wurden bereits rund 145 000 Notmails beantwortet, die zu 80 Prozent von jungen Frauen und zu 20 Prozent von jungen Männern stammen. Die häufigsten Beratungsthemen 2019 waren familiäre Probleme, Depression sowie Liebe und Sexualität. Im Jahr 2019 war das Beratungsfeld »Liebe & Sexualität« 261-mal Thema in Notmails. Das Thema »sexuelle Belästigung« war 59-mal Gegenstand von Beratungen, hier lässt sich für 2020 aber bereits ein Trend nach oben ablesen.

Seit Gründung steigen die Neuanmeldungen ratsuchender junger Menschen von 103 im Jahr 2003 auf 4110 Registrierungen im Jahr 2019 kontinuierlich an. Nur durch das hohe ehrenamtliche Engagement der Onlineberater*innen ist es möglich, das Beratungsaufkommen zu bewältigen und schnellstmöglich zu antworten. Denn in den meisten Fällen fehlt den Ratsuchenden die Geduld zu warten, da die Probleme der Kinder und Jugendlichen akut sind und keinen Aufschub dulden. Hinzu kommt, dass eine späte Antwort demotivierend ist, wenn die Jugendlichen bereits die Hemmschwelle überwunden haben, sich zu öffnen und ihr Problem zu schildern.

 

Themenvielfalt in der Beratung rund um Liebe und Sexualität

Die erste Liebe und die ersten sexuellen Erfahrungen stellen Jugendliche vor ganz neue Herausforderungen. Beispielhafte Themen, die die Ratsuchenden bei JugendNotmail beschäftigen, sind:

  • Nähe-Distanz-Regulation, also die Frage, wie man mit unterschiedlich stark ausgeprägten Bedürfnissen nach körperlicher oder emotionaler Nähe umgehen soll
  • Hemmungen, sich emotional oder sexuell in (ersten) Partnerschaften zu öffnen
  • Liebeskummer und damit verbunden unglückliches Verliebtsein (z. B. in den/die Lehrer*in) und der Umgang mit Zurückweisungen von Liebesbekundungen und damit einhergehenden Kränkungen
  • Partnerschaftsprobleme wie Eifersucht, wenig Lustempfinden oder körperliche Dysfunktionen
  • Missachtung der Privatsphäre durch die Eltern
  • Sexuelle Gewalt wie sexuelle Belästigung, Vergewaltigungserlebnisse, Gewalt in der Partnerschaft
  • LGBTQ: Angefangen bei Unsicherheiten mit der eigenen sexuellen Ausrichtung über Fragen zum Outing und Umgang mit Diffamierungen und Mobbing bis hin zu komplexen Themen wie Transsexualität und Folgeerscheinungen.

Aufgrund der Vielschichtigkeit der Probleme der Ratsuchenden ist die fachliche Expertise der in Systemischer Beratung geschulten Onlineberater*innen von JugendNotmail in diesem sensiblen Beratungsfeld besonders wertvoll und wichtig.

 

Ein Fallbeispiel

Dennis (14) ist seit mehreren Monaten in eine Klassenkameradin verliebt. Manchmal hat er den Eindruck, dass sie seine Gefühle erwidert, sich aber auch nicht traut, den ersten Schritt zu gehen. In anderen Momenten scheint es so, als ob sie ihn nur freundschaftlich mag und ihm ausweichen würde. Beide hatten noch keine Beziehung zuvor.

Beratungsansätze:

  • Soziale Ressourcen erfragen: Hat Dennis Freunde, die das Mädchen auch kennen oder ihm auf andere Weise bei der Einschätzung behilflich sein können, z. B. durch den Austausch von Beobachtungen?
  • Persönliche Ressourcen erfragen: Gab es mal einen Moment, in dem Dennis fast über seinen Schatten gesprungen wäre und das Mädchen gefragt hätte?
  • Lösungen und kleine Schritte erkunden: Könnte man eine Gelegenheit herstellen, in der Dennis mit dem Mädchen allein wäre? Bestehen z. B. gemeinsame Interessen/ Hobbys? Was würde sich ändern, wenn Dennis Gewissheit hätte?
  • Bestärkungen: Dennis in der Absicht, die Situation aufzuklären, bestärken; Vorteile einer Klärung (egal in welche Richtung) herausstellen.
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Vielfalt im Beratungsangebot

Die psychosoziale Einzelberatung ist ein wichtiger Baustein des Online-Beratungsangebots von JugendNotmail. Für Kinder und Jugendliche ist aber der Austausch auf Augenhöhe ebenfalls sehr wichtig und sie möchten wissen, wie andere mit ähnlichen Problemen umgehen, ob sie Tipps oder Ideen haben. Diese Möglichkeit bietet JugendNotmail an zwei Stellen auf der Beratungsplattform: Immer montags findet von 19 bis 20.30 Uhr ein moderierter Themenchat statt. Der Chat bietet bis zu acht Ratsuchenden die Möglichkeit, das Gespräch mit Gleichaltrigen zu suchen. Moderiert wird der Chat von einer geschulten Fachkraft. Das Beratungsfeld »Liebe & Sexualität« wird hier regelmäßig mit Themen wie »Schmetterlinge im Bauch – Austausch über die schönen und die schlimmen Seiten der Liebe«, »Einsamkeit – ich bin unfreiwillig Dauersingle!« oder »Einfach queer?! – Wie gehe ich damit um, wenn ich nicht in die Norm passe?« abgedeckt. Darüber hinaus besteht für alle Ratsuchenden jederzeit die Möglichkeit, im »Forum« einen Thread zum Thema »Liebe & Sexualität« zu eröffnen, wenn sie den Austausch mit anderen suchen. (Ein Thread [= englisch für Faden] besteht aus einer ersten Frage oder Themensetzung eines Users und mehreren Posts dazu, die Redaktion.)

 

Onlineberatung bewährt sich in der Corona-Pandemie

Corona-Zwangsferien, Eltern im Home Office, Kontaktverbot, Ausgangsbeschränkungen und geschlossene Geschäfte: dies sind extreme Einschränkungen im gesellschaftlichen wie privaten Leben, die Kinder und Jugendliche besonders betreffen und verunsichern. Innerhalb kurzer Zeit wurde ihr klar strukturierter Alltag komplett auf den Kopf gestellt: Schulen, Vereine, Kinos, Cafés, Eisdielen, Jugendtreffs und Diskotheken durften nicht mehr öffnen. Hinzu kamen noch das Verbot, seine Freunde zu treffen, und die Auflage, weitestgehend zu Hause zu bleiben. Gerade Jugendliche in der Pubertät haben einen ausgeprägten Freiheitsdrang und fordern einen Freiraum abseits der Kernfamilie. Daher kann die aktuelle Situation besonders zu Verunsicherung, Frustration und Ängsten führen.

Die Corona-Pandemie zeigt aber auch, wie wichtig präventive und unterstützende Beratungsangebote für Kinder und Jugendliche sind und dass insbesondere die Onlineberatung gegenwärtig durch ihre permanente Erreichbarkeit einen Vorteil gegenüber klassischen Unterstützungsangeboten wie Face-to-Face-Beratungen oder Sorgentelefonen hat. Vor diesem Hintergrund hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend den Ausbau von JugendNotmail befürwortet und Fördergelder für die Weiterentwicklung bereitgestellt.

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Veröffentlichungsdatum

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Kathrin Weitzel

seit 2014 als ehrenamtliche Onlineberaterin für JugendNotmail tätig. Außerdem moderiert sie regelmäßig den Themenchat und betreut als Erstcoach neue Berater*innen. Im Hauptberuf ist sie Psychologin und als Gutachterin für Familiengerichte in NRW tätig.

Kontakt: info(at)jugendnotmail.de

 

Alle Angaben zu Links und Autorinnen/Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

Herausgebende Institution

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