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FORUM 2–2020

»Aber dann kam Corona ...«

Dipl.-Päd. Christine Weyh , Informationen zu den Autorinnen/Autoren

Die bundesweite Onlineberatung des Hilfetelefons »Gewalt gegen Frauen«

Psychosoziale Onlineberatung hat sich bereits seit Jahren in der digitalisierten Lebens- und Kommunikationswelt einen Platz erobert. Durch Corona wurde und wird diese Entwicklung derzeit exponentiell beschleunigt. Das Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« ist ein Beispiel dafür, dass Onlineberatung an Bedeutung gewonnen hat.
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Psychosoziale Onlineberatung hat sich bereits seit Jahren in der digitalisierten Lebens- und Kommunikationswelt einen Platz erobert. Durch Corona wurde und wird diese Entwicklung derzeit exponentiell beschleunigt. Das Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« ist ein Beispiel dafür, dass Onlineberatung an Bedeutung gewonnen hat.

 

Ein Internetzugang ist heute so selbstverständlich, wie es noch vor Kurzem ein Telefonanschluss war. Kommunikationsplattformen und Messengerdienste ergänzen und ersetzen zunehmend persönliche und telefonische Gespräche. Kinder wissen heute kaum noch, was ein »Festnetz« ist, und haben heute sogar Unterricht per Videokonferenz. Die konventionelle Arbeitswelt musste sich seit Beginn der Pandemie rasant umstellen und anpassen, ebenso die Beratungslandschaft. Hier werden seit Kurzem neue Möglichkeiten erprobt und umgesetzt oder sind spätestens seit Corona auch in der Breite in der Planung. Dies ist eine wunderbare Entwicklung, die sich auch positiv auf die Möglichkeiten der Lotsenfunktion beim Hilfetelefon – d. h. bei der Vermittlung in die Hilfelandschaft – auswirken wird, insbesondere für Ratsuchende, die gerne weiter online beraten und begleitet werden möchten. Aber erst mal ganz von vorne:

Das Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« verfügt über verschiedene Zugänge zur Beratung. Anders als der Name »Hilfetelefon« vielleicht vermuten lässt, ist es auch eine Plattform, die bundesweit Onlineberatung in drei verschiedenen Formaten anbietet.

 

Zugang per Terminchat

Hierüber kann sich eine Ratsuchende über ein Benutzerkonto einen persönlichen Terminchat bei einer Beraterin buchen. Dieses Zeitfenster von 45 Minuten ist dann nur für sie reserviert. Die Angabe einer E-Mail-Adresse oder eines realen Namens ist dabei nicht nötig. So werden die Grundsätze der Anonymität gewahrt und die Datensicherheit gewährleistet: Die hilfesuchende Person kann sich einen Benutzernamen ausdenken und sicher sein, dass niemand außer ihr selbst die Antworten lesen kann.

 

Zugang per Sofortchat

Bereits seit September 2014 hält das Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« ein erweitertes Angebot vor: den Sofortchat. Er bietet täglich in der Zeit zwischen 12 und 20 Uhr die Möglichkeit, direkt einen virtuellen Beratungsraum zu betreten, ganz ohne Anmeldung. In diesem ist die anonyme

Einzelberatung sofort möglich. Mit nur einem Klick kann so über die Homepage des Hilfetelefons der direkte Kontakt zu einer Beraterin hergestellt werden.

 

Zugang per E-Mail

Diese zeitlich noch freiere, asynchrone Form der Beratung ermöglicht es jeder Ratsuchenden, wann immer sie möchte, einen Text zu verfassen, den sie im Anschluss bearbeiten und worüber sie reflektieren kann. Erst dann entscheidet sie, ob sie ihn so abschicken möchte. Dieser innere Prozess, Geschehenes niederzuschreiben und ein Anliegen zu formulieren, ist schon direkt ein erster und zentraler Aspekt im Prozess des Beratungsgeschehens via E-Mail. Jede und jeder, der oder die schon einmal Tagebuch geschrieben hat, kennt diesen Effekt. Zu dieser Distanz zu sich selbst kommt hier eine Distanz zur Beraterin, ein »Doppelte-Distanz-Effekt«, der wiederum Zugänge schafft. Innerhalb von 24 Stunden garantieren wir dann eine Antwort.

 

Beratung in Zeiten der Pandemie

Über alle drei Kanäle in der bundesweiten Onlineberatung beim Hilfetelefon macht sich die veränderte gesellschaftliche Lage seit der Corona-Pandemie bemerkbar. Denn diese besondere Zeit schafft, wie die eingehenden Beratungsanfragen verdeutlichen, auch besondere Konflikt- und Problemlagen bei den Betroffenen. Zum Beispiel, wenn die regelmäßige therapeutische Sitzung zwischenzeitlich nicht mehr stattfinden kann, die Selbsthilfegruppe ausfallen muss oder ganz einfach, weil ein stützender Alltag weggebrochen ist. Vielleicht auch, weil das viele Alleinsein im Lockdown verdrängte Gedanken zum Vorschein bringt und bestehende Krisen verschärft hat.

Das Angebot der Onlineberatung bietet den hilfesuchenden Personen ein hohes Maß an Anonymität. Gerade bei Betroffenen, die große Schuld- und Schamgefühle empfinden oder schwer traumatisiert sind, ist dieses Medium hilfreich: Sie müssen nicht wie am Telefon ihre Stimme nutzen, um ihre Situation zu schildern, und sie können den Chat einfach und unkompliziert verlassen, ohne das Gefühl zu haben, sich dafür rechtfertigen zu müssen. Dies scheint vielen Nutzerinnen ein noch stärkeres Gefühl der Kontrolle über den Gesprächsverlauf zu geben. Bei Menschen, die Gewalt erlebt haben, ist dies besonders wichtig: Manche können sich nur auf eine Situation einlassen, die sie selbst kontrollieren können. So werden Hürden reduziert und es steigt die Chance, dass die Ratsuchende tatsächlich den Weg in die Beratung findet – trotz aller Zweifel, Ängste und Scham. Den Betroffenen kann so Unterstützung geboten und der Weg zu weiteren begleitenden Angeboten aufgezeigt werden.

Onlineberatung ist »stille« Beratung. Ganz konkret kann z. B. eine gewaltbetroffene Frau in derselben Wohnung in einem separaten Zimmer durchaus mit einer Beraterin chatten, obwohl der Ehemann nebenan ist. Bei einem Telefongespräch wäre dies sehr viel schwieriger. In einer Krise kann dies ein entscheidender Faktor sein.

 

Zur Häufigkeit der Beratungsanfragen seit Beginn der Pandemie

Beim Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« können wir seit April einen steigenden Beratungsbedarf beobachten, der nicht mit den üblichen Schwankungen zu erklären ist und sich seitdem auf einem nahezu gleichbleibenden Niveau eingependelt hat. Insgesamt haben die Beratungskontakte um etwa 20 % zugenommen – telefonisch wie online. Mit dem Rückschluss, dass diese erhöhten Beratungskontakte auf zunehmende häusliche Gewalt zurückzuführen sind, muss man vorsichtig sein. Die Zahlen der Kontaktaufnahme beim Hilfetelefon hängen auch immer damit zusammen, wie stark in der Öffentlichkeit für unser Angebot geworben wird. Und seit Beginn der Coronakrise wurde verstärkt auf uns

als Erstanlaufstelle hingewiesen. Das führt dazu, dass mehr Menschen von unserem Angebot erfahren und es dann auch in Anspruch nehmen. Das Verhältnis zwischen Telefon und Onlineberatung ist innerhalb dieses Anstiegs übrigens nahezu gleichbleibend. Die Onlineberatungen machen knapp 10 Prozent der gesamten Beratungskontakte aus. Guckt man die Kurven im Detail an, zeigt sich, dass die Anzahl an E-Mailberatungen beim Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« mit einer einmaligen Zunahme im März sichtbar angestiegen war. Die Chatberatungen über die feste Buchung eines Termins sind dagegen auf einem stabilen Niveau geblieben – vergleichbar mit den Zahlen vor der Pandemie. Dagegen haben die Beratungen im Sofortchat stetig weiter zugenommen. Das heißt, die Klientinnen bevorzugen die Variante, sofort und ohne Anmeldung in die Beratung zu gehen, auch wenn sie evtl. im »Wartezimmer« einen Moment warten müssen. Diesen zunehmenden Trend können wir übrigens seit der Einführung dieses Formats konstant beobachten. Dies spricht für die schnelle Verfügbarkeit des Angebots.

 

Zu inhaltlichen Veränderungen bei Beratung in Coronazeiten

Bei uns eingehende Fragen zu gesundheitlichen Aspekten müssen von anderen Fachstellen beantwortet werden.
Bei den Fragen, die zu unserem Hilfeangebot passen, spielen allerdings Auswirkungen der Coronakrise mit hinein. Hier ein fiktives Fallbeispiel, basierend auf verschiedenen Onlineanfragen:

»Hallo, ich schreibe diese Zeilen, weil gerade alles wieder an die Oberfläche kommt. Es war vor über acht Jahren. Ich habe mit einem Mann zusammengelebt, der sehr überraschend gewalttätig wurde. Er hat mich geprügelt und vergewaltigt. Er hat mich über lange Zeiträume in unserem Haus festgebunden. Manchmal dachte ich, dass ich das nicht überlebe.

Zum Glück habe ich es geschafft, dem Ganzen zu entkommen. Ich bin daraufhin sehr weit weg gezogen und habe neu angefangen. Er weiß bis heute nicht, wo ich wohne. Ich habe eine neue Stelle, Freundinnen gefunden und ein neues Zuhause. Ich dachte, nach all den Jahren, dass das kein Thema mehr ist. Aber dann kam Corona. Alles war vorerst noch in Ordnung. Körperlicher Abstand zu anderen Menschen ist mir schon vorher angenehmer gewesen als Nähe – in große Menschenansammlungen kann ich sowieso nicht gehen – aber die Maskenpflicht belastet mich ganz schlimm. Ich bekomme Beklemmungen und Angstzustände. Ich werde sofort an die Situationen erinnert, in denen mein Mund geknebelt war. Schweiß bricht mir aus und mein Herz rast. Ich halte das nicht aus. Seit drei Wochen habe ich mich eingeschlossen und kann nicht mehr raus. Seit ich nicht mehr raus gehe, kreisen meine Gedanken nur noch stärker um die Vergangenheit. Ich bekomme täglich Panikattacken. Wie soll ich damit umgehen?«

 

Die Fachkräfte der Onlineberatung

Die Beraterinnen beim Hilfetelefon sind alle Fachkräfte mit Hochschulabschluss. In dem Wissen, dass Onlineberatung andere Anforderungen an die Beraterinnen stellt als die Telefonberatung, führen wir gezielt Schulungen durch, d. h., alle Beraterinnen wurden speziell ausgebildet. Diese Schulungseinheit bildet mittlerweile einen zentralen Bestandteil in der umfangreichen Einarbeitungsphase bei Neueinstellungen. Regelmäßige Fallbesprechungen und die gezielte Einbindung von Supervisorinnen, die selbst über Expertise im Bereich Onlineberatung verfügen, sind Bestandteil der Qualitätssicherung. Die schriftbasierte Beratung bietet natürlich auch der Beraterin eine gute Möglichkeit, ihre Arbeit zu reflektieren.

Um den Sofortchat in der Zeit zwischen 12 und 20 Uhr für Ratsuchende verfügbar zu halten, sind immer mindestens zwei Beraterinnen parallel im Einsatz. Für die Personaleinsatzplanung bedeutet dies, dass die Aufteilung der sich im Dienst befindenden Beraterinnen auf die Telefon- und auf die Onlineberatung genau bedacht werden muss, denn diejenigen, die im Sofortchat beraten, stehen für die Beratung am Telefon nicht zur Verfügung.

Da sich derzeit viele Veränderungen an ganz unterschiedlichen Stellen, sowohl in der Nutzung von virtuellen Kommunikationsmitteln als auch in der Hilfe-Infrastruktur der psychosozialen Beratungslandschaft beobachten lassen, werden wir weiter in der Diskussion bleiben, um die Onlineberatung des Hilfetelefons »Gewalt gegen Frauen« ständig weiterzuentwickeln. Ziel ist es, sie nutzerinnenfreundlich zu halten, um für gewaltbetroffene Frauen, Helfende und Fachkräfte mit Fragen weiterhin gut erreichbar zu sein – auch dann, wenn andere schon geschlossen haben.

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Veröffentlichungsdatum

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Christine Weyh

Dipl.-Päd., seit 2012 Fachbereichsleiterin beim Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« und hier u. a. zuständig für die bundesweite Onlineberatung. Studium der Beratungsmethoden und der Interkulturellen Kommunikation und Bildung, davor langjährige Arbeit in der Frauengesundheitsberatung

Kontakt:

Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben Fachbereichsleiterin im Referat 501

Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen«

Hilfetelefon »Schwangere in Not«

Telefon 0221 3673-3809

Telefax 0221 3673-53809

Christine.Weyh(at)bafza.bund.de

 

Alle Angaben zu Links und Autorinnen/Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

Herausgebende Institution

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