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FORUM 2–2017

Wer soll das bezahlen?

Verhütungsmittel und Zugang in England

Ein vorbildliches Versorgungssystem im Bereich sexueller Gesundheit steht unter Einsparungs- und Veränderungsdruck: eine aktuelle Analyse aus England
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Ein vorbildliches Versorgungssystem im Bereich sexueller Gesundheit steht unter Einsparungs- und Veränderungsdruck: eine aktuelle Analyse aus England

Alle Verhütungsmethoden und die dazugehörige Beratung sind für Frauen und Männer in England im Rahmen der allgemeinen Gesundheitsversorgung durch den nationalen Gesundheitsdienst National Health Service (NHS) kostenfrei. Dies gilt auch für Diagnose und Behandlung von sexuell übertragbaren Infektionen (STIs inklusive HIV). Frauen und Männer haben freien Zugang durch Apotheken, Hausärztinnen und -ärzte (General Practitioners, GPs) und Sexual Health Clinics (SHCs).

Wie funktioniert das? Hier einige fiktive Beispiele:

Jenny ist 28 Jahre alt. Gestern ist das Kondom geplatzt. Sie hat erst in zwei Wochen einen Termin beim Hausarzt, um über Verhütung zu sprechen. Sie hat nun folgende Optionen:

A: Die Apotheke
In einem Sprechzimmer geht die Apothekerin mit Jenny eine Checkliste durch, gibt ihr die Pille danach und rät ihr gleichzeitig, sich die Spirale danach einsetzen zu lassen, die im Akutfall wirksamer ist und für mehrere Jahre schützt. Sie gibt Jenny ein Informationsblatt zur Verhütung, die Telefonnummer der Sexual Health Clinic und rät zum Schwangerschaftstest in drei Wochen. Sie bietet einen Chlamydientest an, den Jenny per Post zurückschicken kann.

B: Der General Practioner
Jenny bekommt einen kurzfristigen Termin für Notfallkontrazeption. Der GP verschreibt auch gleich die Pille. Falls sie die Spirale oder ein Implantat will, empfiehlt er ihr, zur SHC zu gehen, denn in der Gemeinschaftspraxis besteht eine lange Wartezeit. Mit dem Rezept geht Jenny zur Apotheke.

C: Die Sexual Health Clinic
Die SHC ist am anderen Ende der Stadt, aber Jenny kann gleich kommen und muss nur kurz warten. Die Ärztin erfragt die Krankengeschichte und spricht mit ihr über das Schwangerschaftsrisiko. Sie bietet Notfallverhütung als Tablette oder Kupferspirale an (die gleich gelegt werden könnte) sowie Informationen über alle Verhütungsmethoden. Da Jenny sehr starke Blutungen hat, nimmt sie die Pille danach gleich in der SHC ein. Mit der Minipille zum Schnellstart hat sie nach 48 Stunden sichere Verhütung. Sie stimmt dem Chlamydientest zu und in drei Wochen hat sie einen Termin zu Schwangerschaftstest und Einlegen der Hormonspirale. Egal für welche Option sich Jenny entscheidet, sie muss nichts bezahlen.

John ist 43 Jahre alt. Seit sechs Monaten hat er eine 32-jährige Freundin. An Wochenenden haben sie zu ihren zwei Kindern auch seine drei aus früheren Beziehungen im Haus. John spricht mit seinem GP über eine Vasektomie, denn er möchte keine weiteren Kinder. Der GP informiert ihn über Vor- und Nachteile des Eingriffs. Da er sexuelle Gesundheit fördern möchte, bietet die Praxis auch Urintests für STIs und einen Bluttest für HIV und Syphilis. Der GP selbst hat auch die Befähigung und den notwendigen Dienstleistungsvertrag, um Vasektomien in der eigenen Praxis für deren gemeldete Patienten durch zuführen. Sonst würde er die Männer zum örtlichen Vasektomieservice überweisen.

Für wen steht das Angebot zur Verfügung und wer bezahlt?

Seit 1930 gibt es in England Beratungsstellen zur Verhütung, die zunächst nur Verheirateten zugänglich waren und Bezahlung verlangten. 1964 öffnete Helen Brook die nach ihr benannten Zentren für junge Frauen, die damals keine andere Anlaufstelle hatten. Brook Clinics sind bis heute ein Netzwerk von Beratungsstellen für junge Leute unter 25 Jahren. In größeren Städten gibt es auch andere Beratungs stellen, die spezielle Dienste für Jugendliche, Migranten, LGBT+ und Menschen in der Sexindustrie anbieten. Diese können weitergehende Gesundheitsleistungen und Sozial leistungen einschließen, die entweder vom NHS getragen oder von relevanten Wohlfahrtsverbänden unterstützt werden.

Der National Health Service wurde 1948 vom damaligen Gesundheitsminister Aneurin Bevan konzipiert und ist bis heute verantwortlich für die medizinische Versorgung der bri tischen Bevölkerung. Die drei Grundprinzipien sind Deckung der medizinischen Bedürfnisse aller Bürger, kostenfreie Nutzung und Versorgung, die auf medizinischer Notwendigkeit basiert, nicht auf der Zahlungsfähigkeit der Bürger. 1 Der NHS wird hauptsächlich durch Steuergelder und Sozialabgaben finanziert; Zuzahlungen von Patientinnen und Patienten oder andere Einkünfte sind minimal und bestehen z. B. aus Rezeptgebühren und Gebühren für zahnärztliche Versorgung.2 Zusätzlich existieren Möglichkeiten privater Versicherung.

Seit 1974 sind Beratung und Verhütungsmittel in die medizinische Versorgung eingegliedert und damit kostenfrei für die Nutzerin oder den Nutzer. Erstmalig gab es auch eine juristische Klärung zur Legalität der vertraulichen Beratung und Behandlung für Jugendliche unter 16 Jahren ohne Zustimmung der Eltern. Dieses Anrecht auf vertrauliche Behandlung wurde 1985 vom Oberhaus bestätigt.3

Im Rahmen von 1999 formulierten Maßnahmen zur Reduzierung von Teenagerschwangerschaften, der »National Strategy for Sexual Health and HIV« (2001)4 und ihrer Nachfolger, bestätigte das Gesundheitsministerium eine nationale Verpflichtung zur allgemeinen Verbesserung von sexueller Gesundheit und HIV-Bekämpfung. Diese Stra tegien wurden von Investitionen begleitet: Es gab nationale Medienkampagnen zur Verhütung mit Schwer punkt auf länger wirksamen Methoden (LARCs).5

2005 wurde erstmalig eine Studie zur Ökonomie sexueller Gesundheit veröffentlicht.6 Anhand wirtschaftlicher Modelle wurde gezeigt, dass mit einer Veränderung des Nutzungsprofils (weg von der Pille, hin zu LARCs) Gesamtkosten im NHS gesenkt werden können. Besserer Zugang zu LARCs entsprach zudem den Wünschen der Frauen. Kostensenkend wirkte auch ein schnellerer Zugang zu den Einrichtungen, die Schwangerschaftsabbrüche ermöglichen.

Wie viel an Sparmaßnahmen kann man sich leisten?

Schrumpfende Budgets seit der Finanzkrise von 2008 machten vor dem NHS nicht halt. 2012 trat der neue »Health and Social Care Act« in Kraft, der die Finanzierung und Leistungsverrechnung (Commissioning) sexueller und reproduktiver Gesundheit (SRH) völlig neu regelte. Drei Institutionen (Public Health, CCGs7 und NHS England) wurden mit der Indienststellung von Teilaspekten beauftragt, was zur

Fragmentierung bestehender Regelungen führte. Gleichzeitig wurde die »Integration« von Verhütung und GUM8 in Sexual Health Clinics vorangetrieben, die unter einem Dach und bei einem Besuch die Bandbreite von Verhütung, STI/HIVDiagnose und STI-Behandlung anbie ten sollen. 2015 erschien Making it work, ein Dokument zur ganzheitlichen systematischen Gestaltung sexueller Gesundheit,9 das Interessierten relevante Fakten an Beispielen erläutert und Zugriff auf Hintergrundmaterialien gibt, deren Beschreibung hier leider nicht möglich ist.

Das öffentliche Gesundheitswesen (Public Health), ursprünglich Teil des NHS, wurde in die Kommunen eingebunden. Public Health Budgets sind bis 2019 vor Übergriffen zur Deckung von Defiziten im Sozialbudget geschützt, wurden aber seit 2015 jährlich verringert. Die Kommunen sind u.a. verantwortlich für Zugang zu Verhütungsmitteln, Diagno se und Behandlung von STIs und HIV-Prävention. Leistungen können von GPs, Einrichtungen im Schulbereich, SHCs u. a. angeboten werden, Apotheken haben Sonderverträge für Notfallkontrazeption.10

CCGs sind unter anderem für die Bereitstellung von Einrichtungen zum Schwangerschaftsabbruch und der Sterilisation beider Geschlechter zuständig.11

NHS England trägt die Kosten für HIV-Medikamente, sexuelle Gesundheitsversorgung in Gefängnissen, Zentren für Opfer sexueller Gewalt, Krebsvorsorge (Abstrich), Papillomvirusimpfprogramme und andere spezielle Komponenten.12

Dienstleistungen, Tarife und Verträge mussten im ganzen Land neu ausgehandelt werden, um die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Um diese Verträge konnten sich sowohl bisherige Dienstleister als auch neue bewerben, die teils aus der Privatwirtschaft kamen und im Gegensatz zu NHS-Bewerbern Erfahrung mit öffentlichen Ausschreibungen und Geschäftsmodellen hatten. Räumlichkeiten, Computersysteme, Laboreinrichtungen, Telefon- und Internetzugänge der SHCs genügten den neuen Ansprüchen oft nicht mehr. Eigenes Personal sowie örtliche GPs benötigten zusätzliche Aus- und Weiterbildung.

Die Probleme des neuen Systems blieben nicht unbemerkt. Die Studie »Unprotected Nation« (2015) warnte vor den Konsequenzen der verordneten Sparsamkeit13 und berechnete die zu erwartenden Gesundheits- und Sozial kosten bei weiterer Verminderung von SRH-Service leistungen.

Auch Parlament, Ärzteverbände und Gesundheitsinstitutionen waren besorgt: Im August 2017 erschien ein Revisionsbericht, der die oben angedeuteten Probleme auf nationaler Ebene bestätigte.14 Damit nicht genug: In den nächsten fünf Jahren sollen durch weitere Neuorganisation in Sustainability and Transformation Partnerships (STPs) enorme Summen im Gesundheits- und Sozialbereich eingespart werden. Dabei werden die NHS-Grundprinzipien in den Hintergrund gedrängt.15

Nahezu gleichzeitig legte das Dokument Time to Act16 vom Dachverband der Hausärzte (RCGP) Faktoren offen, die den nationalen Standard sexueller Gesundheit maßgeblich bedrohen, sofern nicht gegengesteuert wird: mangelnde Weiterbildungsmöglichkeiten für GPs im LARC-Bereich, gepaart mit Reduzierung der Kostenerstattung für LARCs (Kosten übersteigen Einkommen); weniger SHCs und Fachpersonal, was zu Engpässen in der Versorgung und Ausbildung führt; neue Zugangsbarrieren (z. B. Zugang nur für Patienten aus der Umgebung, Altersgrenzen), Schließung ländlicher SHCs; Mangel an relevanten Effektivitätsdaten und Erfahrung im Commissioning und reduzierte Budgets sowie allgemeiner Mangel an übergreifender Verantwortlichkeit und Führung im System.

Die politisch Verantwortlichen werden aufgefordert, in Aktion zu treten, um diesen Problemen schnellstmöglich zu begegnen, und relevante Empfehlungen dazu sind formuliert. Nach dem Erfolg bei der Reduzierung von Teenagerschwangerschaften, der steigenden Nutzung von LARCs und der Schaffung von patientenorientierten Sexual Health Services droht eine Umkehr der Verhältnisse, die man sich so aber nicht leisten kann. Wer würde das bezahlen?

Fußnoten

1 Principles and values that guide the NHS. www.nhs.uk/NHSEngland/thenhs/about/Pages/nhscoreprinciples.aspx

2 www.kingsfund.org.uk/projects/nhs-in-a-nutshell/how-nhs-funded

3 www.nhs.uk/Conditions/Consent-to-treatment/Pages/Children-under-16.aspx

4 Better prevention.Better services. Better sexual health. The national strategy for sexual health and HIV. www.nationalplanningcycles.org/sites/default/files/country_docs/United%20Kingdom/hiv_plan_uk.pdf

5 LARCs: longer-acting reversible contraception; Dreimonatsspritze, Implantat, Hormon- und Kupferspirale

6 The Economics of Sexual Health.

www.fpa.org.uk/sites/default/files/economics-of-sexual-health.pdf

7 CCGs: Clinical commissioning groups sind regionale Gruppen, die für die medizinische Grundversorgung entsprechend den Bedürfnissen der Bevölkerung verantwortlich sind.

8 GUM: Genitourinary medicine = Urogenitalmedizin

9 Public Health England (2015). Making it work: A guide to whole system commissioning for sexual health, reproductive health and HIV. www.gov.uk/government/publications/commissioning-sexual-healthreproductive-health-and-hiv-services

10 Ebd.

11 Ebd.

12 Ebd.

13 www.fpa.or.uk/sites/default/files/unprotected-nation-2015-executivesummary.pdf

14 Public Health England (2017). Sexual Health, Reproductive Health and HIV – A review of Commissioning. www.gov.uk/government/publications/sexual-health-reproductive-health-and-hiv-commissioning-review

15 A. M. Pollock et al. (2017). Are radical changes to health and social care paving the way for fewer services? BMJ 2017: 358; j4279

16 Sexual and Reproductive Health Time to Act. RCGP, 2017. 8895 RCGP Sexual Health online.pdf

 

Alle Links und Literaturangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

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Veröffentlichungsdatum

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Dr. med. Simone Reuter

Dr. med. Simone Reuter, FFSRH, ist Ärztin für Verhütung und sexuelle Gesund heit im Integrated Sexual Health Service, Sherwood Hospitals NHS Foundation Trust in Mansfield, England. Schwerpunkte ihrer Tätigkeit sind Beratung und Versorgung zu Verhütung und sexueller Gesundheit sowie Weiterbildung für Ärztinnen, Ärzte und Pflegepersonal in diesem Bereich. Außerdem ist sie in der Vasektomie tätig.

 

Alle Angaben zu Autorinnen und Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

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Frauen, die Sozialleistungen beziehen, verhüten seltener als Frauen mit mittlerem und höherem Einkommen. Sie nutzen häufiger Kondome und seltener Verhütungspille und -spirale. Die von Cornelia Helfferich geleitete Studie »frauen leben 3« im Auftrag der BZgA zeigt, dass Frauen mit geringem Einkommen aus Kostengründen unsicher verhüten und so ein ungleich höheres Risiko tragen, unbeabsichtigt schwanger zu werden.
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