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FORUM 1–2020

Kritisch im Umgang mit starren Geschlechterrollen: Das Projekt HEROES®

Ein Interview mit Eldem Kurnaz über das Projekt HEROES®, in dem seit 2007 junge Männer mit Migrationsgeschichte jeweils etwa ein Jahr lang trainieren, um dann als Peers mit anderen Jugendlichen in Workshops zu Themen wie Gleichberechtigung, Ehre, Kultur und Menschenrechte zu arbeiten.
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Ein Interview mit Eldem Kurnaz über das Projekt HEROES®, in dem seit 2007 junge Männer mit Migrationsgeschichte jeweils etwa ein Jahr lang trainieren, um dann als Peers mit anderen Jugendlichen in Workshops zu Themen wie Gleichberechtigung, Ehre, Kultur und Menschenrechte zu arbeiten.

Frau Kurnaz, was ist das Besondere am Projekt HEROES®?

Wir arbeiten sehr erfolgreich mit dem Modell der Peer Education, weil es um sensible Themen geht, die man nicht gerne mit jedem bespricht. Das Besondere ist, dass das Thema Gleichberechtigung von jungen Männern an junge Männer und Frauen herangetragen wird. Außerdem haben in unserem Projekt Jungen einen Anspruch auf geschützte Räume. In der Öffentlichkeit gibt es nämlich noch kaum Bewusstsein dafür, dass auch Männer unter streng patriarchalischen Strukturen Leidtragende sein können und durchaus den Wunsch haben können, sich selbst zu emanzipieren, mit- und untereinander.

 

Welche Ziele verfolgt das Projekt?

In erster Linie, ein Bewusstsein für das Patriarchat zu schaffen. Wie selbstbestimmt oder gefangen befindet sich jede*r Einzelne von uns darin? Was gefällt uns daran, was nicht? Was tun wir dagegen, was nicht? Welche Handlungsoptionen haben wir, welche Perspektiven ergeben sich? Und das Wichtigste: Wie fühle ich mich in alldem? Wie glücklich bin ich, wie glücklich/unglücklich kann ich andere Mitmenschen/Familienmitglieder mit meinen Haltungen und Handlungen machen? Welche Verantwortung trage ich für die Existenz des Patriarchats, starrer Geschlechterrollen und der »Ehre« meiner Familie?

Der Effekt, den wir uns wünschen, ist, dass mehr Jugendliche sich gegen traditionelle und gesellschaftliche Praktiken positionieren, die in erster Linie Frauen/Mädchen unterdrücken, aber auch alle anderen Geschlechter und sexuellen Orientierungen, die betroffen sind. Die Jugendlichen sollen einen gesunden Zugang zur ihrem Ich entwickeln können, ohne sich von Stereotypen und Fremdzuschreibungen programmieren zu lassen. Sie sollen den Druck abbauen lernen, nur so Teil einer kollektiven Identität sein zu können.


Welche Männer nehmen teil und wie finden Sie Zugang zu ihnen?

Die jungen Männer in dem Berliner Projekt kommen häufig durch Mund-zu-Mund-Propaganda, ein Schneeball-Prinzip. Aber es gibt auch durchaus aufmerksame Mitarbeitende an Schulen, die uns Jungen weiterleiten. Einzelne Jungen sehen/hören/lesen Beiträge über uns und suchen uns aktiv auf, um mitzumachen. Die Jungen, die anfangen, sind meist zwischen 16 und 22 Jahre alt, und sie bleiben uns meist   viele Jahre erhalten. Die wenigsten kommen, weil sie sich tief betroffen fühlen und Hilfe suchen, sondern vielmehr, weil sie Freunde suchen, mit denen sie sich sozial engagieren und auch sozialkritische Themen tiefer besprechen können. Sie haben Spaß, über Dinge zu diskutieren, die sie alle insgeheim beschäftigen, aber über die sie in vielen ihrer »männlichen« Kreise nicht wirklich sprechen können. Diese positive Erfahrung stärkt ihre Verbundenheit mit dem Projekt. Sie schätzen und schützen diesen Raum und halten die Freundschaften. Oft bemerken sie erst dann, wie betroffen einige von ihnen selbst sind und welchem Druck sie tatsächlich oft ausgesetzt sind, und sie hinterfragen ihr gelebtes Männlichkeitsbild. Wenn sie so weit sind, auch Multiplikatoren zu sein, erfahren sie, wie viel sie bewirken können, und möchten anderen Mädchen und Jungen helfen, die noch nicht so sensibilisiert sind wie sie selbst. Es ist im Konzept verankert, dass die jungen Männer selbst aus »ehrkulturellen Milieus« stammen, damit die Themen von innen heraus bearbeitet werden und von anderen Jugendlichen aus ähnlichen Sozialisationen ohne starke Vorbehalte angenommen werden. Denn ein Workshop ist eine zu kurze Zeit, um eine Beziehung aufzubauen, deshalb ist der gemeinsame Hintergrund ein Vertrauensfaktor, der nicht erst noch erarbeitet werden muss.

 

Die Teilnehmer durchlaufen im ersten Teil ein Training, das mit einem Zertifikat endet. Wie läuft das ab?

Die jungen Männer kommen wöchentlich zu den Trainings, das ist ein geschützter Raum für sie, in dem sie nur auf ihre feste Gruppe von ca. 6 bis 8 Jungen und zwei Gruppelleitungen treffen. Die Gruppenleitungen setzen die Themen entsprechend den Projektzielen und öffnen die Diskussion für projektspezifische Themen, es wird aber auch Raum gelassen für Spaß, Aktivitäten und persönliche oder aktuelle Ereignisse, über die die Jungen sprechen wollen. Diese wöchentlichen Treffen finden etwa ein Jahr lang statt. Wenn die jungen Männer diesen Prozess ausreichend mitgemacht haben, wird eine Zertifizierungsfeier mit Freund*innen, Familienmitgliedern, Menschen aus der Politik, Fachöffentlichkeit und den Medien organisiert. Hier entsteht oft erstmals das Bewusstsein, dass das, was die Jungen in ihrer Freizeit machen, eine Anerkennung verdient hat. Nach der Zertifizierung dürfen sie Workshops in Schulklassen oder Jungeneinrichtungen durchführen.

 

Welche Inhalte werden behandelt und wer setzt diese Themen?

Inhaltlich geht es um Diskriminierungserfahrungen, Rassismus, Identität, Sexismus, Ehre, Männlichkeit, Geschlechterrollen, patriarchalische Strukturen, Unterdrückungsmechanismen, Menschenrechte, sexuelle Selbstbestimmung, Jungfräulichkeit, Feminismus, Zwangsverheiratung, Homophobie, Transphobie, Traditionen, Religionen, Werte, Liebe, Beziehungen, Familie u. v. m. Die Themen werden hauptsächlich von den Gruppenleitungen in die Trainingsdiskussionen eingebracht, aber es sind alles Themen, zu denen die Jugendlichen generell Meinungen haben und sich schon mal Gedanken gemacht haben, aber kaum mit anderen Gleichaltrigen darüber gesprochen haben. Vieles davon bringen sie manchmal auch selber ein, weil sie aktuell ein Ereignis in ihrem Leben haben oder Themen medial im Fokus sind.

 

Teil 2 von HEROES® basiert auf dem Peer-to-Peer-Ansatz, mit welcher Erwartung?

Raum zu öffnen für kontroverse Themen. Viele der Teilnehmer*innen haben vorher noch nie über unsere Themen gesprochen oder in einer großen Runde Meinungen dazu ausgetauscht. Dabei ist – ganz wichtig – jede Einstellung erlaubt, es geht um einen ehrlichen Diskurs.  Die  Heroes und Gruppenleitungen stellen lediglich Fragen, aber beurteilen nicht. Es ist für sehr viele Teilnehmer*innen eine einschneidende Erfahrung, zu erleben, wie andere aus der Gruppe denken, sich solidarisieren, einander widersprechen, sich positionieren. Dadurch eröffnen sich mehrere Perspektiven, was für viele Jugendliche eine Chance bietet, aus einer gedanklichen Sackgasse herauszukommen, denn oft sind Themen und Haltungen, die z. B. mit »Kultur« oder »Tradition« begründet sind, unantastbar und geben kaum Raum, Dinge zu hinterfragen. Gerade in den Teenagerjahren versucht man einer Rolle/Gruppe gerecht zu werden, ohne über den persönlichen Sinn und Wert nachgedacht zu  haben. Am schönsten ist es, wenn Jugendliche, die schwierige, menschenrechtsverachtende Haltungen aussprechen, innerhalb eines Workshops ihre eigene Position ändern, weil sie durch die richtigen Fragen, aber nicht durch Erwartungen auf ihre eigenen Widersprüche gestoßen sind. Das ist am Nachhaltigsten.

 

Wie sind die schulischen Workshops des zweiten Projektteils aufgebaut und mit welchen Mitteln arbeiten die Heroes?

Sie arbeiten ohne Hilfsmittel und bilden lediglich einen Stuhlkreis. Der Ort des Workshops ist in der Regel ein gewohntes Setting, wie z. B. der Klassenraum. Je nach Diskussionsentwicklung werden zwei bis vier Rollenspiele flexibel eingesetzt (aktuell gibt es acht Rollenspiele), und anhand dieser Rollenspiele werden offene Gespräche geführt.

 

Was sehen Sie als besondere Erfolge und Herausforderungen?

Zu den Erfolgen: Das Projekt wird sehr gut angenommen, weil es um reale gesellschaftliche Themen geht, die den Alltag der Jugendlichen bestimmen. Gemeinsam fühlen sich viele Jugendliche und junge Erwachsene verstanden und begreifen, dass sie bei vielen Themen ein kollektives Problem mit sich schleppen und kein persönliches und somit nicht »schwach« sind oder einen »Fehler« gemacht haben, wenn sie das »Ehrkonzept« nicht erfüllen konnten. Das ist ein riesengroßes Ventil. Sie fühlen sich befähigt, selber an ihrem Glück oder an dem ihrer Mitmenschen mitwirken zu können, oder bekommen Zuversicht, einen Missstand aktiv ändern zu können, wenn es auch nur um individuelle Situationen geht und sich manchmal auch nur die Einstellung ändert, nicht aber das Handeln.

Eine Herausforderung ist der Spagat zwischen Kulturalisierung und Relativierung. Wir sind ein selbstkritisches Projekt. Tabuthemen werden innerhalb der Community behandelt und viele Teilnehmer*innen der Workshops erreichen einen besseren Zugang zu ihrer Identität, aber wir sind kein Assimilationsprojekt und vor allem keines, das sich durch rassistische oder rechtsgesinnte Gruppen instrumentalisieren lassen will, weil wir kritisch im Umgang mit Traditionen sind. Das heißt nicht, dass wir Menschen davon überzeugen wollen, dass eine bestimmte Religion oder Kultur »schlecht« wäre. Im Gegenteil: Es gibt in jeder Kultur und Glaubensrichtung Anteile von patriarchalen Strukturen, die Frauen benachteiligen oder nur ein bestimmtes Männerbild zulassen.

 

Welche Rolle spielen die Themen Sexualität und Gewaltprävention im Projekt?

Sexualität und Gewalt spielen eine zentrale Rolle, denn wenn wir die Ehrthematik runterbrechen auf das Wesentliche, stoßen wir immer wieder darauf, dass es um die Einhaltung von Geschlechterrollen geht. Der Wert bzw. das Ansehen eines Kollektivs wie der Familie ist sehr auf der Erfüllung der Rollen der einzelnen Mitglieder aufgebaut.  Ich würde behaupten, in einer streng patriarchalischen Gemeinschaft sind die voreheliche Enthaltsamkeit der Frau und die Gewaltbereitschaft des Mannes, um seine Familie und seine Ehre zu schützen, das höchste Gebot. Daher ist es umso wichtiger, mit den Jugendlichen über die sogenannte »Ehre«, nach der viele von ihnen leben, zu sprechen und das systematische Zusammenleben dahinter zu erkennen.

Es ist normal, sich als Jugendliche*r oder junge*r Erwachsene*r nur mit sich selbst, seiner Persönlichkeitsentwicklung und besonders seiner Geschlechtsidentität zu beschäftigen und den Wunsch zu haben, endlich als »erwachsener« Mann oder »erwachsene« Frau wahrgenommen zu werden. Dafür trachten viele Jugendliche danach, den Stereotypen gerecht zu werden. Dabei bemerken sie gar nicht, dass ein ganzes Gesellschaftssystem dahintersteckt, in dem sie sich selbst mit diesen unhinterfragten geschlechtsspezifischen Stereotypen zu »Unterdrücker*innen« und »Unterdrückten« machen. Sie nehmen das als natürlich hin und sind sich nicht bewusst, dass sie dieses System selbst durch menschengemachte Regeln stützen. Wenn wir die Jugendlichen nach ihren persönlichen Werten fragen, ist Freiheit ein wichtiger Wert für sie, aber gleichzeitig passen sie sich Normen an, kontrollieren sich gegenseitig und bewirken das Gegenteil, nämlich, dass ihre sexuelle Selbstbestimmung eigentlich fremdbestimmt wird und dass Gewalt oft die am meisten respektierte Form der »Verteidigung« ist, auch wenn es sie enorm unter Druck setzt.

Ein wichtiger Faktor für die Entstehung des Projektes HEROES® durch unseren Träger Strohhalm e.V. ist die Tabuisierung von Sexualität in streng patriarchalischen und »ehrkulturellen Milieus«. Strohhalm e.V. ist ein Verein, der sich gegen sexualisierte Gewalt an Mädchen und Jungen einsetzt. Gerade die Tabuisierung lässt Opfer von sexualisierter Gewalt im Stillen leiden, oft mit Scham- und Schuldgefühlen. Im schlimmsten Fall wird ein Missbrauch durch eine schnelle Heirat, Zwangsheirat (ob mit dem Täter selbst oder einer anderen Person), Verschleppung in andere Städte/Dörfer oder Re-Migration in das Herkunftsland der Eltern kaschiert. Das Opfer ist oft dazu verdammt, dieses Geheimnis nie aussprechen zu dürfen, um das Ansehen der Familie nicht zu gefährden, und muss sich selbst einreden, dass ein Missbrauch nie stattgefunden hat. Heute wissen wir, dass es viele dieser Fälle gibt und in solchen tabuisierenden Gesellschaften, in denen mit Ehre, Religion und Kultur argumentiert wird, Menschen am schwersten erreicht werden können.


Stehen Ihre Konzepte und Erfahrungen öffentlich zur Verfügung?

Ja, HEROES® ist ein geschütztes Konzept, und wir haben insgesamt mehr als zehn Standorten beim  Aufbau  und der Umsetzung des HEROES®-Projekts geholfen, ihre Teams mehrmals geschult und begleiten sie kontinuierlich weiter. Wir haben bisher ein deutschland- und österreichweites Netzwerk mit weiteren Standorten u. a. in Salzburg, Graz, Duisburg, Offenbach, Leipzig, Augsburg, Nürnberg, München, Schweinfurt.

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Veröffentlichungsdatum

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Eldem Kurnaz, BA Business Administration (Schwerpunkte Marketing und Personal),
ist seit 2010 Gruppenleiterin im Projekt HEROES® – Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre.
Für Gleichberechtigung.

Kontakt:
HEROES® – Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre.
Für Gleichberechtigung
Träger: Strohhalm e.V. Stuttgarter Straße 61
12059 Berlin
Telefon 030 50918060
eldem(at)heroes-net.de
www.heroes-net.de

 

Alle Angaben zu Links und Autorinnen/Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

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