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Forschungsergebnisse

Ausgewählte Ergebnisse

Jugendsexualität im Internetzeitalter - Sexuelle und soziale Beziehungen Jugendlicher und junger Erwachsener

Cover zu Jugendsexualität im Internetzeitalter

In dieser Studie wurden 160 Jugendliche aus Hamburg und Leipzig befragt. Aus zwei Gründen wurde für diese (für eine qualitative Studie ungewöhnlich)…

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In dieser Studie wurden 160 Jugendliche aus Hamburg und Leipzig befragt. Aus zwei Gründen wurde für diese (für eine qualitative Studie ungewöhnlich) hohe Anzahl von Interviews entschieden: Einerseits sollte für bestimmte Gruppen quantitative Tendenzen explorativ untersucht werden, andererseits sollte ein möglichst breites, möglichst heterogenes Spektrum unterschiedlicher Erfahrungen für beide Geschlechter abgebildet werden. Das ist durch den Zugang über unterschiedliche Schulformen gut gelungen – mit zwei wichtigen Einschränkungen:

  • Jugendliche mit homosexueller Orientierung beteiligten sich nicht an der Studie – die Ergebnisse beziehen sich auf junge Frauen und Männer, die sich als heterosexuell bezeichnen. Dadurch bleiben wichtige Fragen unbeantwortet: Wahrscheinlich nutzen nicht-heterosexuelle Jugendliche das Internet anders, vielleicht sehen sie auch andere Pornografie. Inwiefern das Internet schwulen und lesbischen Jugendlichen spezifische Informationen vermittelt, wie es bei der Sexual- und Beziehungspartnersuche genutzt wird, ob es ein leichteres Coming-out ermöglicht oder als Mittel zu Selbstakzeptanz, Emanzipation und „Empowerment“ dient, wissen wir nicht. Eine fundierte empirische Studie zu diesen Fragen wäre ausgesprochen wünschenswert.
  • Jugendliche, die Sonder- und Förderschulen oder keine Schule besuchen, wurden nicht erreicht. Oft wird vermutet, dass diese Jugendlichen – also die die Schule abbrechen, bzw. jene aus besonders bildungsschwachen, benachteiligten sozialen Verhältnissen – weniger gut zu einem kritischen und reflektierten Umgang mit Pornografie und den sexuellen Angeboten des Internets in der Lage seien als die hier befragten jungen Frauen und Männer. Wir können vor solchen Annahmen, die auf keinerlei empirischer Forschung basieren, nur warnen. Ob und inwiefern bei Jugendlichen aus bestimmten vulnerablen Gruppen (z. B. Jugendliche in prekären Lebenssituationen, intelligenzgeminderte Jugendliche, klinisch auffällige Jugendliche oder in Einrichtungen der Jugendhilfe untergebrachte Jugendliche) andere Nutzungsweisen der sexuellen Angebote des Internets zu finden sind, wissen wir nicht. Auch dazu wären differenzierte empirische Studien äußerst lohnend.

Trotz der hohen Fallzahl ist dies eine qualitative Studie, das heißt, die Ergebnisse erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität. Sie sind nur begrenzt verallgemeinerbar und gelten nicht für alle Jugendlichen. Gleichwohl gehen wir davon aus, dass wir den Umgang des Mainstreams 16- bis 19-jähriger Jugendlicher mit den sexuellen Angeboten des Internets gut abbilden. Die im Folgenden zusammengefassten Ergebnisse haben daher den Status empirisch begründeter Thesen über großstädtische Jugendliche im Jahr 2009.

Beziehungen von Jugendlichen sind romantisch und durch die Ideale Liebe und Treue geprägt

Für die meisten befragten Jugendlichen gehört Sexualität in eine Liebesbeziehung, ihnen gilt eine Beziehung dann als „fest“, wenn sie mit der Partnerin oder dem Partner schlafen. Die Beziehungen sind eng und romantisch, sie werden von den Eltern positiv bewertet, unterstützt und meist in den familiären Alltag integriert. Sexualität und Liebesbeziehungen validieren sich wechselseitig. Das führt dazu, dass 16- bis 19-Jährige spätestens zwei bis drei Monate nach dem Beginn einer Beziehung miteinander schlafen, um zu zeigen, dass bzw. um zu prüfen, ob es eine „richtige“ Beziehung ist. Maßgeblich werden Beziehungen durch die Ideale Liebe und Treue geprägt – die Auseinandersetzungen und Regelungen um das Thema Eifersucht und die Sicherung der sexuellen Exklusivität haben eine wichtige beziehungsstiftende Funktion.

Die Sexualität in der Beziehung wird egalitär und konsensmoralisch organisiert

Junge Frauen beanspruchen gleiche sexuelle Rechte und Optionen wie Männer. Sie erleben – fast immer –, dass ihre Forderung nach Gleichheit und Gegenseitigkeit in der Partnerschaft respektiert wird. Das zeigt sich beispielsweise an der gemeinsamen Aufgabe Verhütung: Jugendliche verhüten in ihren festen Beziehungen im Großen und Ganzen sicher, sorgfältig und partnerschaftlich. Sie verstehen Verhütung als gemeinsame Aufgabe, über Verhütung wird gesprochen, die Verantwortung wird geteilt. All das sind gute Voraussetzungen für gelungene Verhütung. Es ist als Erfolg einer umfassenden, zielgruppengerechten sexualpädagogischen Aufklärungs- und Präventionsarbeit zu bewerten. Die meisten Jugendlichen sind mit der Sexualität in ihrer Beziehung zufrieden. Ihr Erleben ist: Je länger die Beziehung andauert, desto mehr Qualität weist die Partnersexualität auf.

Jugendliche haben in der Regel seriell monogame Beziehungsmuster

Jugendliche sind in der Regel seriell monogam, wenn auch oft in kurzen Partnerschaften. Sie haben in der Lebensphase zwischen 13 und 18 Jahren ein bis zwei längere feste Beziehungen. Sie erhoffen sich dauerhafte Beziehungen, aber das Fortbestehen wird nur gewünscht, solange sie sich in der Beziehung aufgehoben fühlen und sie als befriedigend sowie lebendig erleben. Die Mehrheit der von uns Interviewten hatte schon mehr als eine feste Beziehung. Die Jugendlichen nehmen wahr, dass serielle Beziehungen bei ihrer Altersgruppe und bei Erwachsenen heute eher die Regel als die Ausnahme sind. Ihren Zweifel an der Beständigkeit ihrer Beziehungen über das nächste Jahr hinaus leiten sie ganz pragmatisch aus vier Gründen ab: ihrem Alter, der Entwicklung, die vor ihnen liegt, der geforderten Jobmobilität und der Instabilität heutiger Partnerschaften. Die Serialität von Beziehungen wird aber nicht als ein Scheitern bedauert, sondern eher als Gelegenheit akzeptiert, mit unterschiedlichen Partnerinnen und Partnern verschiedene Erfahrungen zu sammeln.

Das Singleleben ist eine sexuell eher karge Übergangsphase zwischen zwei Beziehungen

Single-Sein ist im Jugendalter normal und erwartbar: Zwei Drittel der Zeit zwischen dem 13. und dem 18. Geburtstag verbringen Jugendliche als Single. Diese Singlephasen werden als temporäre Zwischenstadien gedeutet, sie sind durch die Verarbeitung der vergangenen und die Suche nach einer neuen Beziehung geprägt. Die Singlephasen erleben Jugendliche beider Geschlechter ambivalent: Einerseits genießen sie die Freiheiten des Ungebundenseins, andererseits sehnen sie sich nach Nähe und Geborgenheit in einer Beziehung. Sexuell ist das Singleleben nur für wenige Jugendliche erfüllt und aufregend: Etwa ein Drittel aller Singles hat sich in der Singlezeit auf mindestens einen unverbindlichen sexuellen Kontakt eingelassen. Betrachtet man die Gesamtzahl aller Geschlechtsverkehre in den letzen vier Wochen, bildet sich die sexuelle Zurückhaltung der Singles noch sehr viel deutlicher ab: 95 % aller Geschlechtsverkehre in den letzten vier Wochen fanden in festen Beziehungen statt. Das bedeutet umgekehrt, dass nur etwa 5 % der Geschlechtsverkehre auf das Konto der Singles gehen, die ja etwa 50 % der Befragten ausmachen. Auch wenn diese etwas krude Zählung die Qualität und emotionale Bedeutung jeder einzelnen sexuellen Begegnung nicht angemessen wiedergibt, bestätigt sich hier noch einmal die enge Kopplung von Sexualität, Liebe und Beziehungen in den Wünschen und der sexuellen Praxis der Jugendlichen.

Das Internet bietet einen neuen Erfahrungsraum der von Jugendlichen hauptsächlich für das Chatten, Flirten und die Partnersuche genutzt wird

Bei Jugendlichen sind ausschließlich sexuelle Kontakte im oder über das Internet selten. Am weitesten verbreitet ist Online-Flirten, das anfänglich zum Experimentieren und später der Partnersuche dient. Ein Drittel der Jugendlichen hat schon mindestens einmal eine Internetbekanntschaft persönlich getroffen, die meisten dieser Bekanntschaften wurden allerdings nach dem ersten Treffen beendet. Etwa ein Fünftel hatte schon einmal eine Liebesbeziehung und nur eine Minderheit (6 %) einen unverbindlichen sexuellen Kontakt mit einer Person, die sie im Internet kennengelernt hat. Die große Mehrheit (94 %) verschickt oder postet keine Nacktbilder, weil ihnen die damit zusammenhängenden Risiken bewusst sind. Cybersex oder Online-Sex gehören für die meisten befragten Jugendlichen zu den sexuellen Möglichkeiten des Internets, die man ausprobieren kann, aber nicht muss – nur 13 Prozent der Befragten haben damit Erfahrung, die meisten jungen Frauen und Männer lehnen diese Art der Sexualität ab. Im Netz werden Jugendliche auch mit unangenehmen Situationen konfrontiert, wenn ihr Chatpartner oder ihre Chatpartnerin sich online aggressiv verhält, er/sie offensiv nach sexuellen Dienstleistungen fragt, er/sie zu sexuellen Aktivitäten drängt oder sich im Internet exhibitioniert. 15 Prozent berichten von sexueller Belästigung im oder über das Internet. Jugendliche zeigen dabei jedoch große Medienkompetenz und wissen, wie sie sich vor und in diesen Situationen schützen können.

Der Umgang mit Pornografie im Jugendalter ist massiv „gegendert“: Mädchen sehen Pornografie später, seltener und nutzen sie fast nie zur Masturbation

Auf den ersten Blick beeindrucken die Ergebnisse durch das hohe Desinteresse der meisten jungen Frauen an Pornografie. Dafür finden wir verschiedene Ursachen: Da sich Mädchen in dem sich schnell ändernden Pornoangebot des Internets oft nicht gut auskennen, finden sie nicht so ohne Weiteres diejenigen pornografischen Filme oder Bilder, die für sie möglicherweise erregend sein könnten. Ein weiterer Grund ist, dass sich Mädchen mit einem öffentlichen Bekenntnis zu einer Pro-Porno-Position in bestimmten sozialen Gruppen dem Risiko sozialer Abwertung aussetzen. Äußern junge Frauen schließlich Interesse an Pornografie, erleben sie intrapsychische und interpersonelle Konflikte um die weibliche Geschlechtsrolle. Denn mit dieser Haltung werden sowohl klassische Weiblichkeitsideale der Gefühls- und Beziehungsorientierung von Frauen als auch feministische Ideale herausgefordert. Es zeigt sich, dass für Mädchen heutzutage das Desinteresse an Pornografie die weibliche Geschlechtsidentität stabilisiert und stützt. Für Jungen ist jedoch gerade das Gegenteil der Fall: Ihnen dient das offensive Interesse an Pornografie zur Stützung und Affirmation der sich ausbildenden männlichen heterosexuellen Geschlechtsidentität.

Die hohe Verfügbarkeit von Pornografie führt zu ihrer Normalisierung, nicht zu sexueller Verwahrlosung

Jugendliche unterscheiden klar zwischen ihrer realen und der virtuellen sexuellen Welt, sie wollen die eine nicht durch die andere ersetzen. Sie übernehmen aus dem konsumierten pornografischen Material solche sexuellen Fertigkeiten und Variationen, die zu ihren sexuellen Wünschen passen. Deshalb beginnen sie heute vermutlich früher damit, orale Praktiken und unterschiedliche Stellungen auszuprobieren. Sie grenzen sich kritisch von dem Frauenbild ab, das in der Pornografie vermittelt wird, und sehen sich nicht in der Gefahr, es zu übernehmen. Männliche Jugendliche gehen mit dem Internetangebot wählerisch um, ihre sexuellen Vorlieben und Strukturen bestimmen den Pornografiekonsum, nicht umgekehrt. Die Internetpornografie ersetzt herkömmliche Onanievorlagen, ohne die Masturbationsfrequenz zu erhöhen. Der Umgang von Jugendlichen mit Pornografie ist deutlich unaufgeregter als die öffentliche Diskussion darüber.

Massive Geschlechterunterschiede finden sich beim Umgang mit Pornografie und bei der Masturbation

Selbstbefriedigung ist bei Jugendlichen weit verbreitet, allerdings finden sich sowohl in Bezug auf das Vorkommen und die Frequenzen als auch in den Einstellungen große Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Für Jungen ist Masturbation fast immer die erste sexuelle Erfahrung und sie erleben ihren ersten Orgasmus fast immer bei der Selbstbefriedigung. Mädchen fangen später an, sie haben bei der Selbstbefriedigung nicht immer einen Orgasmus, nicht wenige Mädchen hatten bis zum Zeitpunkt der Befragung keine Masturbationserfahrungen. Die meisten masturbationserfahrenen Jugendlichen nehmen Selbstbefriedigung als normal und unproblematisch wahr. Für Mädchen sind die Einstellungen zur Selbstbefriedigung weniger homogen, das Spektrum reicht von Ablehnung bis zu Neugier und Enthusiasmus.

Jugendliche mit Migrationshintergrund orientieren sich weitgehend am liberalen westlichen Muster der Jugendsexualität

Die Unterschiede im sexuellen Verhalten und in den Einstellungen zur Sexualität zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund sind gering bis mäßig. Das kann als Hinweis gedeutet werden, dass sich Jugendliche aus geschlechtstraditionellen Kulturen weitgehend am liberalen Muster der westlichen Jugendsexualität orientieren. Drei Kennzeichen sind für die Modernisierung der Jugendsexualität in hochindustrialisierten Gesellschaften festzustellen: freizügige sexuelle Einstellungen und Verhaltensweisen, Geschlechteregalität – im Sinne der Anerkennung gleicher sexueller Rechte und Optionen für beide Geschlechter – und schließlich eine starke Bindung der Sexualität an Liebe und Beziehungen. Vor diesem Hintergrund muss man also festhalten, dass der Modernisierungsprozess für Jugendliche mit Migrationshintergrund teilweise weniger weit vorangeschritten ist. Das stellt junge Frauen und junge Männer vor sehr unterschiedliche Herausforderungen: Junge Frauen mit Migrationshintergrund kämpfen um mehr sexuelle Selbstbestimmung und um sexuelle Freiheiten. Für junge Männer sind sexuelle Freiheiten in sehr viel größerem Ausmaß gegeben. Ihre Lernaufgabe bezieht sich auf einen Prozess, den Jugendliche in Deutschland bereits zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren vollzogen haben, nämlich darauf, die Romantisierung der männlichen Sexualität in die sexuellen Verhaltensweisen zu integrieren.

Die Selbstregulierungskompetenz Jugendlicher zeigt sich an der Integration der neuen sexuellen Angebote des Internets in die Jugendsexualität

Die größte Herausforderung für Jugendliche im Hinblick auf ihre Sexualität in den letzten Jahrzehnten war nicht die Überflutung mit Internetpornografie, auch nicht – für heterosexuelle Jugendliche – der Umgang mit der Bedrohung durch HIV/AIDS, vielmehr waren es die Freiräume, die sie im Zuge der sexuellen Revolution in den späten 1960er-Jahren plötzlich hatten und nutzen konnten. Frühe Jugendstudien aus den 1970er-Jahren und spätere Verlaufsstudien zeigen: Jugendliche nutzten die neue Freizügigkeit und verlegten das durchschnittliche Alter bei der ersten festen Beziehung und beim ersten Geschlechtsverkehr erheblich vor. Doch Wegfall oder Wirkungsverlust elterlicher und gesellschaftlicher Verbote mündeten keineswegs in Anomie. Jugendliche organisieren heute ihre Sexualität in Beziehungen, konsensmoralisch und geschlechteregalitär, sie verhüten effektiv und die Schwangerschaftsraten minderjähriger Frauen sind in sexualliberalen Gesellschaften niedrig. Die sexuelle Revolution und ihre Folgen zeigen: Jugendliche sind in Zeiten sexuellen Umbruchs als Gruppe zu hohen Anpassungsleistungen in der Lage; sie demonstrieren eine hohe Fähigkeit zur Selbstregulierung ihrer Sexualität, die nicht mehr durch strenge gesellschaftliche Normen kontrolliert wird. Diese Selbstregulierungskompetenz zeigt sich nach unserer Studie auch bei der jüngsten gravierenden Veränderung ihrer sexuellen Umwelt, der beinah unbegrenzten Verfügbarkeit pornografischen Materials.

Quelle: BZgA Datensatz, "Jugendsexualität im Internetzeitalter", 2013

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Studie

Jugendsexualität im Internetzeitalter

Sexuelle und soziale Beziehungen Jugendlicher und junger Erwachsener

Im Mittelpunkt dieser im Dezember 2011 abgeschlossenen Studie stehen die verschiedenen Formen sozialer und sexueller…
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Fachheft

Jugendsexualität im Internetzeitalter

Eine qualitative Studie zu sozialen und sexuellen Beziehungen von Jugendlichen

Die Neuen Medien sind fester Bestandteil des Alltags von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Sie nutzen sie als…
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