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FORUM 1–2021

Projekt »Herzfroh 2.0«: Kieler Bildungsfachkräfte beraten als Expertinnen und Experten in eigener Sache

Gesa Kobs , Jessica Scheller , Informationen zu den Autorinnen/Autoren
Das Institut für Inklusive Bildung qualifiziert Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen zu Bildungsfachkräften. Sie lernen, an Hochschulen zu lehren, um Inklusionskompetenzen an Studierende zu vermitteln und Berührungsängste abzubauen. Die sechs Bildungsfachkräfte wirken am Projekt »Herzfroh 2.0« mit. Sie begleiten die Entwicklung von Materialien zur Sexualaufklärung und prüfen diese auf Verständlichkeit für Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen.

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Das Institut für Inklusive Bildung qualifiziert Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen zu Bildungsfachkräften. Sie lernen, an Hochschulen zu lehren, um Inklusionskompetenzen an Studierende zu vermitteln und Berührungsängste abzubauen. Die sechs Bildungsfachkräfte wirken am Projekt »Herzfroh 2.0« mit. Sie begleiten die Entwicklung von Materialien zur Sexualaufklärung und prüfen diese auf Verständlichkeit für Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen.

 

Das Institut für Inklusive Bildung: Menschen mit Behinderungenlehren an Hochschulen

Am Institut für Inklusive Bildung in Kiel wurden weltweit erstmalig sechs Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen1 zu Bildungsfachkräften qualifiziert. In einer dreijährigen Vollzeit-Qualifizierung lernten sie, Bildungsarbeit an Hochschulen zu leisten. Die Bildungsfachkräfte geben Seminare und Vorlesungen zu den spezifischen Bedarfen, Sicht weisen und Alltagssituationen von Menschen mit Behinderungen. Mit ihren Bildungsleistungen erreichen sie Studierende und damit künftige Lehr-, Fach- und Führungskräfte und fördern so inklusive Handlungskompetenzen und eine inklusive Denkweise. Die Studierenden erfahren aus erster Hand von Expertinnen und Experten in eigener Sache, wie man einander auf Augenhöhe begegnet, und lernen so, professionelle Beziehungen im Arbeitskontext zu gestalten.

Im Rahmen ihrer Bildungsarbeit sind die Bildungsfachkräfte, die vor der Qualifizierung in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung beschäftigt waren, sozialversicherungspflichtig und unbefristet am Institut für Inklusive Bildung angestellt. Das Institut ist eine selbstständige, der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel angegliederte Einrichtung. In seiner Rechtsform ist das Institut für Inklusive Bildung eine gemeinnützige GmbH.

Laut Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ist sicherzustellen, dass Menschen nicht wegen einer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden dürfen. Inklusion ist ein Menschenrecht. Jedoch haben Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen in der tertiären Bildung so gut wie keine Zugangsmöglichkeiten und Verwirklichungschancen. Dementsprechend sind berufliche Bildungskonzepte erforderlich, die den spezifischen Bedarfen und Kompetenzentwicklungen der Zielgruppe Rechnung tragen und den Zugang zur Arbeitswelt eröffnen. Bildung ist die Voraussetzung zur Realisierung der Existenzsicherung, zur Entfaltung einer unabhängigen Lebensführung und zugleich zur individuellen Persönlichkeitsentwicklung. Das Institut für Inklusive Bildung verfolgt das Ziel, bundesweit die Hochschulen für Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen zu öffnen. Die Bildungsfachkräfte tragen dazu bei, indem sie Barrieren in den Köpfen abbauen und Inklusionskompetenzen vermitteln.

Die Lehrveranstaltungen der Kieler Bildungsfachkräfte sind mittlerweile fest in den Curricula der Hochschulen Schleswig-Holsteins verankert und bieten eine wertvolle Ergänzung zur theoriegeleiteten Lehre. Pro Jahr erreichen sie in rund 80 Veranstaltungen bis zu 5000 Menschen. Die Studierenden tragen ihre gesammelten Erfahrungen weiter und sorgen so für einen erheblichen Multiplikationseffekt in der Gesellschaft.

Das Institut für Inklusive Bildung nimmt dabei in mehrfachem Sinne Bezug auf die UN-BRK:

  • Es sensibilisiert Menschen ohne Behinderungen für die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen (Artikel 8).
  • Durch die Qualifizierung zur Bildungsfachkraft verwirklichtes das Recht auf Bildung (Artikel 24) erstmalig im Hochschulbereich.
  • Durch die Schaffung von Arbeitsplätzen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt realisiert es den Anspruch auf Arbeit (Artikel 27).

Aufgrund der immensen gesellschaftlichen Wirkung überträgt das Institut für Inklusive Bildung seit 2018 die Qualifizierung zur Bildungsfachkraft in weitere Bundesländer. Mittlerweile werden in Kooperation mit dem Institut an sechs weiteren Hochschulstandorten in Deutschland Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen zu Bildungsfachkräften qualifiziert. Bis 2023 soll die Qualifizierung an zehn Hochschulstandorten implementiert sein.

Das Projekt »Herzfroh 2.0«

»Herzfroh 2.0« ist ein Kooperationsprojekt der BZgA und der Hochschule Luzern. Im Projekt wird die sexualpädagogische Materialsammlung »Herzfroh« aktualisiert und weiterentwickelt. Es richtet sich an Jugendliche und junge Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen sowie Fachpersonen in Bildung und Betreuung. Das Projekt »Herzfroh 2.0« leistet somit einen wichtigen Beitrag zur sexuellen Selbstbestimmung, Teilhabe und zum Schutz der sexuellen Integrität von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen, wie dies die UN-BRK ein fordert. Durch »Herzfroh 2.0« sollen barrierefrei qualitativ hochwertige Informationen zu Beziehung, Sexualität und sexueller Gesundheit entwickelt werden.

Hervorzuheben ist, dass hier unterschiedliche Zielgruppen in den Erstellungsprozess eingebunden werden, um die Entwicklung bedarfsorientierter neuer Produkte zu ermöglichen und die Qualitätssicherung zu gewährleisten. Aus diesem Grund sind die Kieler Bildungsfachkräfte in das Projekt »Herzfroh 2.0« involviert.

Bildungsfachkräfte überprüfen die »Herzfroh 2.0«-Materialien

Als Expertinnen und Experten in eigener Sache beraten die Bildungsfachkräfte bei der Überarbeitung und Weiterentwicklung der bestehenden Materialien zur Sexualaufklärung für Jugendliche und junge Erwachsene mit sogenannten geistigen Behinderungen. Begutachtet werden dabei sowohl analoge als auch digitale Bildungsbausteine aus dem Projekt »Herzfroh 2.0« in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden und Darstellungsformen. Diese werden zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Projektverlauf bewertet und können so im Prozess der Weiterentwicklung an die Bedarfe der heterogenen Zielgruppe von Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen angepasst und stetig optimiert werden. Zu den besprochenen Materialien gehören beispielsweise Themenhefte, Podcasts, Videos oder auch ein Online-Spiel. Die Materialien befassen sich mit Themen zur sexuellen Aufklärung wie Kennenlernen, Dating, Verlieben, Verhütung sowie Sex und Kinderwunsch.

Die ersten beiden Fachberatungs-Workshops haben bereits stattgefunden. Hier bewerten die Bildungsfachkräfte die Materialien in Bezug auf ihre Nutzbarkeit und Verständlichkeit. Ziel dabei ist es, eine hohe Qualität der Zielgruppenansprache und Weiterentwicklung der Medien sicherzustellen, um diese für einen möglichst breiten Personenkreis verständlich zu machen. So werden die Materialien mit Blick auf folgende Fragestellungen von den sechs Menschen mit Behinderungen begutachtet: Sind Themen und Inhalte aus Sicht der Bildungsfachkräfte ansprechend aufbereitet? Sind Themen und Inhalte hilfreich umgesetzt? Gibt es etwas, das darüber hinaus beachtet werden soll oder gewünscht wird, etwa bezüglich Relevanz, Verständlichkeit, geeigneten Formats für das jeweilige Thema sowie gegebenenfalls der Haptik? Auch die Motivation und die Attraktivität für die Zielgruppen fließen in die Bewertungen der Bildungsfachkräfte mit ein.

Aus deren Sicht hat sich gezeigt, dass die breit aufgestellte Zielgruppe von vielen verschiedenen Vermittlungsformaten profitiert. So soll beispielsweise ein bestimmtes Thema nicht nur als Heft in Schriftform angeboten, sondern auch digital aufbereitet werden, sodass Personen individuell wählen können, welche Informationen sie am besten aufnehmen können. Zielgruppen, die bisher außen vorgelassen wurden, werden auf diese Weise inkludiert.

Samuel Wunsch, Bildungsfachkraft am Kieler Institut für Inklusive Bildung, zieht ein positives Resümee aus seiner Mitarbeit an dem Projekt »Herzfroh 2.0«: »Ich fand das richtig gut und bin dankbar dafür, dass ich teilnehmen konnte. Weil ich […] sehr wichtig finde, wenn es um die Aufklärung und Sexualität von Menschen mit Behinderungen geht, dass […] [sie] einen Zugang bekommen und es verständlich für alle ist.« Laut Samuel Wunsch ist es von großer Bedeutung, dass Menschen mit Behinderungen schon im Kindesalter zugetraut wird, über Themen zur sexuellen Aufklärung sprechen zu können: »Je früher sie darüber aufgeklärt wer den, umso besser können sie später dementsprechend reagieren, wenn sie in gewisse Situationen geraten.« Doch Menschen mit Behinderungen wird oftmals nicht zugetraut, dass sie ein Verständnis für bestimmte Themen haben, oder es wird angenommen, dass diese Themen sie nicht betreffen. Daher ist es umso wichtiger, dass Themen zur sexuellen Aufklärung so aufbereitet werden, dass sie möglichst viele Menschen mit Behinderungen ansprechen und für sie verständlich sind. Das ist laut Samuel Wunsch auch deshalb sehr wichtig, damit »die Zielgruppe lernt, in Situationen Nein zu sagen, wenn es um sexuelle Selbstbestimmung geht. Dass sie lernt, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.«

Für das gesamte Team des Instituts für Inklusive Bildung ist die Mitwirkung im Projekt »Herzfroh 2.0« sehr spannend und bereichernd. Der Austausch mit dem Projektteam sowie die Möglichkeit, den Entstehungsprozess der Materialien auf diese Weise mitzugestalten und zu verfolgen, ist eine besondere Erfahrung. Viel zu oft wird die Barrierefreiheit als nachgelagerte Maßnahme verstanden. »Herzfroh 2.0« hat hier eine Vorreiterrolle. Die Zielgruppe wird bereits bei der Entwicklung mit einbezogen und hat eine mitgestaltende Rolle. Das Institut für Inklusive Bildung sieht gespannt auf die weitere Zusammenarbeit und ist dankbar für dieses wichtige Projekt.

1Die Bezeichnung »geistige Behinderung« ist durchaus problematisch. Das Sozialgesetzbuch unterscheidet »körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen« (§ 2 (1) SGB IX). Das Institut für Inklusive Bildung wendet sich an die besondere Zielgruppe der Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen. Die Verwendung von Kategorien vereinfacht in sich vielfältige Behinderungen (in Art und Umfang) und blendet andere Kategorien weitestgehend aus (bspw. körperliche und geistige Behinderungen). Zudem ist die Bezeichnung »Behinderung« häufig mit Zuschreibungen (behindert sein) oder sogar Stigmatisierungen (fehlende Anerkennung und Gleichberechtigung) verbunden, obwohl Behinderungen auch von Kontextfaktoren abhängig (behindert werden) und mit Statuspositionierungen verbunden sind. Deshalb ist jede Behinderungsbezeichnung zu Recht umstritten. Zugleich ist die begriffliche Markierung »geistige Behinderungen« zur Verdeutlichung spezifischer Bedarfe und Beschreibung tatsächlicher Lebenswelten notwendig. So widersprüchlich es auf den ersten Blick erscheinen mag: Damit Entdramatisierung und Normalisierung erreichbar sind, ist die begriffliche Markierung notwendig – weshalb diese Kategorie hier zur Erläuterung der Zielgruppe Verwendung finden muss.

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Veröffentlichungsdatum

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Gesa Kobs ist die Geschäftsführerin des Instituts für Inklusive Bildung. Sie hat die »Herzfroh 2.0«-Workshops intensiv vorbereitet und moderiert.

Kontakt: kobs(at)inklusive-bildung.org

Jessica Scheller ist Regionalmanagerin am Institut für Inklusive Bildung in Kiel.

Kontakt: scheller(at)inklusive-bildung.org

 

 

Alle Angaben zu Links und Autorinnen/Autoren beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

Herausgebende Institution

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Diese Ausgabe des FORUM stellt Maßnahmen und Projekte vor, die die Qualitätssicherung in den Bereichen Sexualaufklärung und Familienplanung, der Prävention von sexualisierter Gewalt und sexuell übertragbaren Krankheiten (STI) sowie den Frühen Hilfen gewährleisten.
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