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FORUM 2–2023

Teilhabeplanung und sexuelle Selbstbestimmung: Stand – Herausforderungen – Möglichkeiten

Prof. Dr. Sven Jennessen , Tim Krüger , Andreas Nitsche , Informationen zu den Autorinnen/Autoren
Sexuelle Selbstbestimmung ist ein Teil der individuellen Lebensgestaltung, der in der Teilhabeplanung bisher kaum Berücksichtigung findet. Der vorliegende Beitrag zeigt Möglichkeiten dazu auf und betrachtet bisherige Erkenntnisse aus Lebensbereichen, die mit Sexualität und ihrer Realisierung verbunden sind.

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Sexuelle Selbstbestimmung ist ein Teil der individuellen Lebensgestaltung, der in der Teilhabeplanung bisher kaum Berücksichtigung findet. Der vorliegende Beitrag zeigt Möglichkeiten dazu auf und betrachtet bisherige Erkenntnisse aus Lebensbereichen, die mit Sexualität und ihrer Realisierung verbunden sind.

Einleitung

Am 29. Dezember 2016 wurde das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) im Bundesgesetzblatt verkündet. Es gilt als eines der größten sozialpolitischen Vorhaben der vergangenen Jahre. Ziel ist es, »die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen im Sinne von mehr Teilhabe und mehr Selbstbestimmung zu verbessern und die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterzuentwickeln« (Deutscher Bundestag 2022, S. 3). Im Gesetzestext wird im Kontext der Leistungen zu sozialer Teilhabe als Ziel formuliert, »die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbstständige und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern« (BTHG § 4 (1), Abschnitt 4). Obwohl unstrittig ist, dass die menschliche Sexualität ein relevanter Bestandteil der Persönlichkeit ist und zu einer selbstständigen Lebensführung zweifellos auch die Selbstbestimmung über den Wohnort sowie Partnerschaft, Ehe, Familie und Elternschaft gehört, wird das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung im BTHG weder thematisiert, noch haben in dieses Gesetz konkrete rechtliche Regelungen Einzug gefunden, auf die sich Menschen mit Behinderungen zur Realisierung dieses Rechts beziehen könnten. Entsprechend ungeklärt ist die Frage, wie dieses Thema in konkreten Teilhabeplanungsprozessen Berücksichtigung finden kann. Auch in der UN-Behindertenrechtskonvention, die als Grundlage und Ausgangspunkt des BTHG gilt, finden sich hierzu keine eindeutigen Aussagen. Jedoch bieten Hinweise auf die freie und selbstbestimmte Entscheidung über Partner- und Partnerinnenwahl, Familienplanung und Wohnform sowie die gleichberechtigte Teilhabe an sämtlichen Angeboten der Gesundheitsversorgung und lebenslangen Bildung – zu der auch sexuelle Bildung gehört – hinreichende Referenzen zum Thema Sexualität. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung »resultiert (somit) aus dem allgemeinen Selbstbestimmungsrecht, welches verfassungsrechtlich durch Art. 1 Abs. 1 GG (Schutz der Menschenwürde) und Art. 2 Abs. 1 (Handlungsfreiheit) in Verbindung mit dem Benachteiligungsverbot behinderter Menschen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG« (Theben, 2019, S. 1) abgesichert ist.

Auch in den bisher veröffentlichten Teilhabeberichten der Bundesregierung (2013, 2016, 2021) werden Fragen sexueller Selbstbestimmung nicht aufgegriffen. Diese implizite Negierung von Sexualität im Kontext von Behinderung kann als Spiegel eines grundsätzlichen Phänomens im Umgang mit der Sexualität von Menschen mit Behinderungen aufgrund unterschiedlicher Zuschreibungen interpretiert werden. So finden Fragen sexueller Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung immer noch nur mühsam ihren Weg in die gesellschaftlichen Diskurse. Aber auch in den Fachdiskursen der Rehabilitations-, Sonder- und Heilpädagogik, Gesundheitswissenschaften, Medizin, Sozialen Arbeit und ihrer Nachbardisziplinen werden Selbstbestimmungsfragen im Kontext von Sexualität nur marginal bearbeitet. Wurde dieser Themenbereich lange tabuisiert oder wurden entsprechende thematische Auseinandersetzungen mit wenigen Ausnahmen, die primär in der Selbsthilfebewegung verortet waren, vorrangig als Gefahrendiskurse geführt, rücken Aspekte einer positiven, gesundheitsförderlichen Sexualität von Menschen mit Behinderungen erst vereinzelt in den Blick von Theorie und Praxis. »Dabei kann die individuelle Sexualität des Menschen, wenn sie selbstbestimmt gelebt wird, einen wichtigen Bestandteil der Lebensqualität des bzw. der Einzelnen ausmachen und besitzt somit eine hohe gesundheitliche Relevanz« (Jennessen & Ortland, 2018, S. 145). Da eine selbstbestimmte Sexualität immer eingebettet in andere individuelle Lebenslagen und in einem wechselseitigen Verhältnis zu denselben zu verstehen ist, werden im Folgenden zunächst zentrale Erkenntnisse zu fünf relevanten Lebensbereichen von Menschen mit Behinderungen komprimiert dargestellt. Diese bieten die Folie, auf der die Chancen und Herausforderungen der Teilhabeplanung im Kontext sexueller Selbstbestimmung einzuordnen sind.

Lebensbereiche

Laut Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (infas, 2022) finden sich in Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe (EGH) noch nicht flächendeckend Bedingungen, die eine Wahrung der Intimsphäre oder eine selbstbestimmte Sexualität ermöglichen. Vielen Menschen in besonderen Wohnformen steht kein eigenes Badezimmer zur Verfügung (15 % der Befragten), nur 67 % der Befragten in besonderen Wohnformen können dieses abschließen. Auch Einzelzimmer sind noch nicht flächendeckend umgesetzt (12 % wohnen mit anderen in einem Zimmer zusammen). Es handelt sich bei den besonderen Wohnformen um »unfreiwillig hergestellte Gemeinschaften«, in denen die Wunsch- und Wahlmöglichkeiten eingeschränkt sind (Schrooten & Tiesmeyer, 2022, S. 123). In aktuellen Daten des Projekts »ReWiKs« (siehe auch der Beitrag zum Projekt »ReWiKs« in diesem FORUM) zeigt sich zudem, dass in besonderen Wohnformen häufig Zeit und personelle Ausstattung fehlen, um das Thema in der Praxis zu adressieren. Bedeutende Barrieren stellen auch Angehörige und gesetzliche Betreuer*innen1 dar, die durchschnittlich deutlich weniger Interesse haben, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, als die Klient*innen selbst. Es wird ersichtlich, wie sehr Möglichkeiten der sexuellen Selbstbestimmung von allgemeinen Möglichkeiten der Selbstbestimmung abhängig sind (Jennessen et al., 2019).

Der Arbeitsplatz ist ein Ort der Begegnung und somit ein Ort, an dem sich Menschen kennen und lieben lernen können. Dennoch ist Sexualität vielfach ein problematisiertes Thema in Diensten und Einrichtungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (Bössing et al., 2022). Die meisten Daten beziehen sich auf Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbMs) als Tatorte sexualisierter Gewalt an Menschen mit Behinderungen, besonders von Frauen (Schröttle & Hornberg, 2014). Seit 2008 fördert die Politik deshalb die Ausbildung von Ansprech- und Vertrauenspersonen (Frauenbeauftragten), die als eine Säule des Gewaltschutzes in WfbM seit 2017 auch gesetzlich verankert sind (Kluge, 2020). Zudem zeigt eine Studie zu (sexualisierter) Gewalt im Arbeitsalltag von Mitarbeitenden in Pflege- und Betreuungsberufen problematische Aspekte sexueller Handlungen im Kontext von WfbMs (Vaupel et al., 2021). Eine eigene aktuelle Befragung von Fachkräften der EGH im Bereich Arbeit zeigt die hohe Relevanz und Präsenz des Themas in den WfbMs. Mitarbeitende aus WfbMs schätzen das Interesse von Klient*innen, sich mit Themen der sexuellen Selbstbestimmung auseinanderzusetzen, als hoch und das ihrer Mitarbeitenden als gering ein, was ein strukturelles Spannungsfeld in den WfbMs andeutet.

Da Selbstbestimmung, Sexualität, Bildung und Gesundheit in einem interdependenten Verhältnis zueinander stehen (vgl. Jennessen & Ortland, 2018), sind ein subjektives Gesundheitsgefühl und die Inanspruchnahme gesundheitlicher Versorgungsangebote für die Realisierung von Sexualität essenziell. Jedoch schätzen Menschen mit Beeinträchtigungen ihren Gesundheitszustand deutlich negativer ein als Menschen ohne Beeinträchtigungen, was durch objektive Indikatoren gestützt wird. So haben Menschen mit Beeinträchtigungen beispielsweise mehr krankheitsbedingte Fehltage bei der Arbeit (35 vs. neun Tage bei Menschen ohne Beeinträchtigungen) und zeigen häufiger moderate bis schwere depressive Symptome (24 % vs. 7 % bei Menschen ohne Beeinträchtigungen). Zudem erfüllen nach einer Selbstauskunft nur 10 % aller vertragsärztlichen Praxen in Deutschland bedeutsame Merkmale der Barrierefreiheit und verfügen zugleich über barrierefreie Sanitäranlagen (vgl. BMAS 2021, S. 410 f.). Deutschlandweit sind außerdem nur vier gynäkologische Spezialambulanzen verfügbar (Hornberg et al., 2019; siehe auch den Beitrag von Wattenberg-Karapinar, Lätzsch & Hornberg in diesem FORUM), was für eine adäquate Versorgung im Kontext selbstbestimmter Familienplanung körperlich beeinträchtigter Frauen eine gravierende Barriere darstellt. Bremer & Winkelmann weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass bei Anbieter* innen medizinischer Versorgung und Nutzenden ein Bewusstsein für die Bedeutung sexueller Gesundheit sowie ein verbesserter Zugang zu sesexuellen Gesundheitsangeboten geschaffen werden muss, um das gesundheitsfördernde Potenzial von Sexualität auszuschöpfen (Bremer & Winkelmann, 2012, S. 101).

Die Möglichkeit, neue Menschen kennenzulernen, zeigt sich in besonderen Wohnformen als begrenzt. Die fünf häufigsten Gründe für Einschränkungen von Freizeitmöglichkeiten sind fehlende Unterstützung, Mangel passender Angebote, fehlende soziale Kontakte, mangelnde Mobilität und mangelnde finanzielle Möglichkeiten (infas, 2022, S. 82). Darüber hinaus sind auch Möglichkeiten digitaler Teilhabe zur Erweiterung der Freizeitmöglichkeiten eingeschränkt. Dies betrifft z. B. den Aufbau und Erhalt von Sozialkontakten über Social Media (Krüger & Prchal, 2022, S. 13).

Auch wenn die UN-Konvention zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung die Sexualität nicht explizit erwähnt, verpflichtet sie die Vertragsstaaten dazu, sich für die Anerkennung und Umsetzung des Rechts auf Kinderwunsch und Elternschaft von Menschen mit Behinderungen einzusetzen. So wird in Artikel 23 gefordert, Barrieren und Diskriminierung in diesem Bereich abzubauen. Nicht zuletzt auf Grundlage dieses Rechts haben sich in den vergangenen Jahren professionelle Unterstützungsangebote im Rahmen der Begleiteten Elternschaft für Eltern mit Lernschwierigkeiten und ihre Kinder bewährt und weiterentwickelt (vgl. Rohmann, 2021, S. 266). Dennoch stehen vielen Familien keine wohnortnahen, passgenauen Unterstützungsangebote zur Verfügung. Dies hat den Effekt, dass überproportional häufig Eltern-Kind-Trennungen (vgl. Düber, 2021, S. 23 f.) oder fremdbestimmte Umzüge der Eltern(teile) in eine wohnortferne Einrichtung (ebd., S. 29; Pixa-Kettner & Rohmann, 2012, S. 29 f.) stattfinden. Viele Eltern befürchten zudem vor dem Hintergrund ihrer biografischen Erfahrungen, dass die Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen als Mangel an elterlicher Kompetenz wahrgenommen werden könnte. Dennoch lässt sich mittlerweile auch eine hohe Zufriedenheit der Eltern mit den professionellen Hilfen sowie eine positivere Haltung gegenüber dem Jugendamt konstatieren (vgl. Pixa-Kettner & Rohmann, 2012, S. 36 ff.; Düber, 2021, S. 42).

Realisierung sexueller Selbstbestimmung als Teilhabeleistung

Die dargestellten Herausforderungen sexueller Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen führen zu der Frage, wie das Thema in den Prozess der individuellen Teilhabeplanung integriert werden kann. Im Gesamtplanverfahren zur Leistungsbeantragung sind Antragstellende, Kostenträger, Träger der EGH und ggf. weitere Akteur* innen beteiligt. Teil 2 des SGB IX beschreibt die Anforderungen an das Gesamtplanverfahren (§§117–122 SGB IX). Der Gesetzgeber fordert u. a. die konsequente Personenzentrierung, Sozialraumorientierung sowie eine transparente Vorgehensweise, um die alltägliche Lebenswelt der Antragstellenden bestmöglich zu erfassen und auf diesem Wege bedarfsgerechte und zielorientierte Teilhabeleistungen zu planen (vgl. Bäcker et al., 2022, S. 86 ff.)

Instrumente zur Ermittlung des individuellen Bedarfs orientieren sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF), wobei der Umsetzungsstand der Forderungen des SGB IX und die Beantragungspraktiken bundesweit differieren. Dies mag auch daran liegen, dass die Umsetzung des BTHG stufenweise erfolgt und die Gesetzgebung auf Grundlage von Evaluationen und politischen Diskursen nachjustiert wurde. Schmachtenberg (2022) spricht treffend von einer »lernenden Gesetzgebung«. Es gibt kein bundesweit einheitliches Instrument zur Bedarfsermittlung. Jeder Sozialhilfeträger kann ein eigenes Instrument entwickeln (vgl. von Boetticher, 2020, S. 242), sodass sich die Herangehensweisen und die Tiefe des ICF-Bezugs im Rahmen der Bedarfsermittlung bundesweit leicht unterscheiden (vgl. Seidel & Schneider, 2020, S. 6).

Unter Berücksichtigung dieser Dynamiken stellen sich die Fragen, mit welchen Schwerpunkten Teilhabeleistungen zur Erweiterung der sexuellen Selbstbestimmung ICF-basiert eingefordert werden können, welchen Platz diese in der Logik des SGB IX einnehmen und welche Besonderheiten und Stolpersteine bei einer Leistungsbeantragung zu beachten sind.

In der ICF finden sich Themen der sexuellen Selbstbestimmung an unterschiedlichen Stellen wieder. Komponenten der Aktivitäten und Partizipation (Kodierung d) sind in einer Liste zusammengefasst, welche unterschiedlichste Lebensbereiche und Aktivitäten umfasst. Expliziten Bezug zur sexuellen Selbstbestimmung haben z. B. folgende ICF-Kodierungen:

  • Beziehungen eingehen (d7200)
  • Intime Beziehungen (d770)
  • Eheliche Beziehungen (d7701)
  • Sexualbeziehungen (d7702)
  • Liebesbeziehungen (d7200)

Mit Blick auf die Umweltfaktoren (Kodierung e) braucht es eine sexualitätsbezogene Herleitung, um die Relevanz der Kodierung zu verdeutlichen, z. B.:

  • Einstellung (e4). Dieser Umweltfaktor bezieht sich auf die Einstellungen von anderen Menschen, die wiederum zu Teilhabeeinschränkungen der Antragstellenden führen können. So könnte z. B. Unterstützung benötigt werden, um mit Angehörigen deren Haltung zu sexuellen Themen zu diskutieren.
     
  • Dienste des Medienwesens (e5600). Hierbei geht es um Medienkompetenz und, mit Blick auf sexuelle Selbstbestimmung, z. B. um den Zugang und

Konkreten Bezug zur individuellen Sexualität finden sich in den Codes der Körperfunktionen und -strukturen (Kodierung b). Exemplarisch seien benannt:

  • Funktionen der sexuellen Erregungsphase (b6400),
  • mit Geschlechtsverkehr verbundene Beschwerden (b6700),
  • Funktionen der sexuellen Entspannungsphase (b6403).

Es ist möglich, Aspekte von Sexualität mit ICF-Codes zu hinterlegen und in Bedarfsermittlungsinstrumente zu überführen. Dadurch könnte Sexualität einen festen Platz in der personenzentrierten Teilhabeplanung erhalten. Eine gesicherte Finanzierung von Assistenz- und Beratungsleistungen in diesem Themenfeld (z. B. sexualpädagogische Programme, Begleitung zu Beratungsstellen, Teilhabe im Sozialraum) kann dazu beitragen, den reflexartigen Verweis auf mangelnde Ressourcen zu vermeiden und diese Angebote stärker in den Fokus zu rücken.

Die konkrete Umsetzung im Gesamtplanverfahren (unter konsequenter Beteiligung der betroffenen Personen) sowie der Transfer in zielorientierte Bedarfsermittlungen beinhaltet jedoch einige Fragen, Kritikpunkte und Stolpersteine, z. B.:

  • Kann eine ICF-Orientierung die facettenreichen Themen selbstbestimmter Sexualität wirklich umfassend abdecken, oder besteht die Gefahr der Engführung und Eingrenzung?
     
  • Wie kann mit dem Spannungsfeld aus Privatsphäre und einer offenen Kommunikation über individuelle Teilhabebedarfe zur sexuellen Selbstbestimmung vor (zumeist) fremden Menschen im Rahmen der Gesamtplanung umgegangen werden?
     
  • Was bedeutet dies für leistungsberechtigte Personen?
     
  • Inwieweit lassen sich Ziele im Rahmen der Bedarfsermittlung ressourcenbasiert formulieren, um eine Reduktion des Individuums auf eine Liste aus Defiziten zu vermeiden?

Ausblick

Sexualität ist (noch) kein Thema in der individuellen Teilhabeplanung und hat in den von Refinanzierungslogiken geprägten Strukturen der EGH oft ein »Nischendasein«. Um das Thema nachhaltig zu verankern, bedarf es eines Antragsverfahrens, in dem sexualitätsbezogene Themen mit einem Höchstmaß an Vertraulichkeit und Sensibilität besprochen werden können. Das Spannungsfeld zwischen der gesetzlich geforderten Offenlegung des Teilhabebedarfs durch die leistungsberechtigte Person einerseits und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung andererseits erfordert, die bestehende Praxis der Bedarfsermittlung bezogen auf das intime Thema Sexualität zu überprüfen. Derzeit besteht die Gefahr, dass das Dilemma des »doppelten Tabus « (Döring 2021, S. 134) von Sexualität und Behinderung auch die Grundhaltung der Beteiligten im Bedarfsermittlungsverfahren prägt und damit diese Tabuisierung auch im Leistungsgeschehen fortsetzt und zementiert. Hier sind Lösungsansätze denkbar: Zur Wahrung der Intimsphäre könnten z. B. vorbereitende Gespräche der leistungsberechtigten Person mit einer Vertrauensperson zu individuellen Teilhabebedarfen im Bereich Sexualität stattfinden. Die dort besprochenen Themen könnten dann im Rahmen der anschließenden Teilhabeplanung verschlüsselt thematisiert werden. Eine Sensibilisierung der Beteiligten für das Themenfeld »Sexualität und Behinderung« wäre ebenfalls angezeigt.

Das Recht auf Teilhabe aller Menschen schließt den Lebensbereich Sexualität ein. Dies begründet weiteren Forschungs- und Reflexionsbedarf, um individuelle Maßnahmen zur Erweiterung der sexuellen Selbstbestimmung als Teilhabeleistung planen, bewilligen und fachlich begleiten zu können. Um die Perspektive der leistungsberechtigten Personen optimal einzubeziehen und Lösungsansätze für die beschriebenen Fragen und Herausforderungen zu entwickeln, bedarf es empirischer Forschung mittels partizipativer Forschungsansätze.

Fußnoten

Auf Wunsch der Autoren wird in diesem Beitrag der Gender-Stern verwendet.

Literaturangaben

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Alle Links und Literaturangaben beziehen sich auf das Erscheinungsdatum der jeweiligen Druckausgabe und werden nicht aktualisiert.

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Sven Jennessen ist seit 2017 Professor für Pädagogik bei Beeinträchtigungen der körperlich-motorischen Entwicklung am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind pädagogische Perspektiven auf Krankheit, Sterben und Tod, Pädagogik im Kontext des Förderschwerpunkts körperlich-motorische Entwicklung, Prozesse und Dynamiken der Inklusion, Exklusion und Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung sowie Körper und körperliche Differenz in gesellschaftlichen Kontexten. Kontakt: sven.jennessen(at)hu-berlin.de 

Tim Krüger ist Rehabilitationspädagoge und seit 2019 als Koordinator des »ReWiKs«-Projekts am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der sozialen Teilhabe und Gesundheit von erwachsenen Menschen mit Behinderungen, insbesondere von Menschen mit Lernschwierigkeiten und Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen. Dies beinhaltet Fragestellungen zu (sexueller) Selbstbestimmung und zur Versorgungs- und Teilhabesituation in der Eingliederungshilfe und Langzeitpflege.
Kontakt: tim.krueger(at)hu-berlin.de 

Andreas Nitsche ist Organisationsentwickler, Sozialpädagoge und Heilerziehungspfleger und seit 2016 im Forschungsprojekt »ReWiKs« an der katholischen Hochschule NRW (Standort Münster) verantwortlich für die Fortbildungen und regionale Vernetzung der Lots*innen.
Kontakt: a.nitsche(at)katho-nrw.de 

 

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